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Franz Grillparzer

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Peter von Matt

Die fundamentale Spannungsstruktur

Keiner der grossen deutschen Dramatiker hat sich so entschieden mit den innersten Gesetzmässigkeiten der Bühnenkunst befasst wie Schiller. Auch auf diesem scheinbar untergeordneten Ge biet spiegelt sich beispielhaft sein Weg vom Chaos zur Ordnung, von der Bindungslosigkeit zur Freiheit im Gesetz. Mit der Leiden schaft des Bildhauers zum Gestein, mit dessen Witterung für die Möglichkeiten des noch unbehauenen Blocks schuf er die «Räuber»; auf seinem grandiosen Fortschreiten von Werk zu Werk aber errang er für sein Tun die formulierte Regel. So liefern uns heute seine Briefe und Notizen einen klaren Einblick in die Prinzipien der dramaturgischen «Organisation» und eine feste Terminologie, ergänzt durch das anthropologische System in den philosophischen Schriften. Dies bedeutet zweifellos eine gewaltige Hilfe für die In terpretation, aber auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr. Denn verschiedene Phänomene von entscheidender Bedeutung bleiben ausserhalb von Schillers Betrachtung oder erhalten nicht das ihnen zukommende Gewicht. Darunter ist die Erscheinung zu rechnen, dass Schiller, sobald er sich eines Stoffes bemächtigt, als erste Stufe der «Organisation> die Einheit des Schauplatzes sichert, den homo genen, festbegrenzten Raum, in dem sich die dramatische Fabel abspielt. So zimmert er sich in «Wallensteins Lager» gleichsam die Bühne, die nie verlassen wird. Das ganze Stück hindurch hört man von fern die Trommeln und Querpfeifen, das Rasseln der Waffen und den Marschschritt der Abteilungen. Der Kaiserhof aber, der agonale Gegenpol, bleibt unsichtbar. Im «Tell» ist es die heroische Landschaft, die alles umfassend trägt, und in «Maria Stuart» bildet die elisabethanische Hofwelt den einheitlichen Hintergrund, der sowohl Fotheringhay wie Westminster in sich schliesst. Am reinsten aber erscheint dieses dramaturgische Grundphänomen in einigen Entwürfen. Der «Malteser»-Plan, zu dem Schiller immer wieder zurückkehrte, weist mit der Insel der Ordensritter eine geradezu exemplarische Einheit der Handlungswelt auf, und in den wiederholten Ansätzen zu einem Stück, dessen Schauplatz ein Schiff gewesen wäre, wagte er sich, vom Einfall fasziniert, bis an die Grenze des Gestaltbaren.

«Das Schiff als eine Heimat, eine eigene Welt», notiert er sich dazu, und präzisiert: «… eine abgeschlossene Existenz unter eigenen strengen Notgesetzen» (Säk. Ausg. Bd. 8 S. 297/300). An Goethe schreibt er ganz allgemein: «Es ist etwas sehr anziehendes für mich in solchen Stoffen, welche sich von selbst isolieren, und eine Welt für sich ausmachen» (8. Dez. 1797).

Zweifellos handelt es sich auch hier um einen Teil jener organischen Anverwandlung aristotelischer Grundregeln, welche Schillers Dramaturgie kennzeichnet. Aber da Aristoteles für ihn weniger eine Autorität als eine bestätigende Instanz darstellte, müssen die Gründe tiefer liegen. Die pathetische Demonstration der Freiheit, die Schiller je und je inszeniert, die Ueberwindung der Stoff-welt in allen ihren möglichen Auswirkungen, fordert die gross-angelegte Repräsentation des sinnlich-widerständigen Bereichs. Und da deshalb die fundamentale Spannung gleichsam vertikal ist, das Irdische als Ganzes dem Höhenreich der Ideen polar entgegensteht, bildet es eine der wichtigsten Aufgaben des Dichters, diesen diesseitigen Bereich – bei allen immanenten Gegensätzlichkeiten – als möglichst einheitliche Welt zu gestalten.

Es wurde angedeutet, dass diese Erscheinung den ursprünglichen Akt des schöpferischen Entwerfens beeinflusst und oft über die Wahl eines Stoffes entscheidet. Auch bei Grillparzer findet sich nun ein verwandtes Phänomen, das entweder als Faszinosum am Anfang des Arbeitsprozesses steht oder in dessen Verlauf die Grundgestalt des Werks bestimmt. Man könnte es das Spannungs-verhältnis zwischen zwei in sich geschlossenen, verschieden organisierten Welten nennen. Am offensichtlichsten zeigt sich dies in der Medea-Trilogie, wo Grillparzer alle Mittel anwendet, um die Gegensätze Kolchis-Griechenland in grösstmöglicher Schärfe hervortreten zu lassen. Beide Bereiche sollen in sich selbst gegründet dastehen, jeder ein einstimmiges Ganzes bildend, «daseiend, weil es ist». Ein hier wie dort gültiges Gesetz, eine verpflichtende Ordnung, die beide Welten überbrückt, gibt es nicht. Auf dieser Grundspannung beruht jedes Geschehen; Leiden und Taten der Menschen sind von da aus zu begreifen und werden von da aus gestaltet. Und so wie Jason und Medea stehen alle Figuren Grillparzers im Bannkreis ihrer jeweiligen Welt, die sie geformt hat, die sie nährt und eifersüchtig umklammert.

Dass diese Grundstruktur ein entscheidendes Kriterium für den Entschluss zur Bearbeitung eines Stoffes bildete, lässt sich schon bei der «Ahnfrau» nachweisen. In der Selbstbiographie beschreibt Grillparzer den Einfall zu diesem Stück folgendermassen: «Ich hatte in der Geschichte eines französischen Räubers, Jules Mandrin, glaub‘ ich, die Art seiner Gefangennahme gelesen. Von den Häschern verfolgt, flüchtete er in ein herrschaftliches Schloss, wo er mit dem Kammermädchen ein Liebesverhältnis unterhielt, ohne dass dieses, ein rechtliches Mädchen, ahnte, welch einem Verworfenen sie Kammer und Herz geöffnet hatte. In ihrem Zimmer wurde er gefangen. Der tragische Keim in diesem Verhältnis, oder vielmehr in dieser Erkennung, machte einen grossen Eindruck auf mich» (Bong 14, S. 56).

Was Grillparzer hier den «tragischen Keim in diesem Verhältnis» nennt, entspricht genau der beschriebenen Konfliktsituation zwischen den Vertretern zweier verschieden strukturierter Welten. Man könnte zwar einwenden, dass die Räuberwelt keine in sich selbständige Ordnung darstelle, sondern nur in der Negation der bürgerlich-rechtlichen Welt bestehe; dass sie deren gewaltsam zu heilende Krankheitserscheinung sei und nicht ein gegensätzlich Anderes. Gerade das aber will Grillparzer vermeiden. Im Anschluss an die erwähnte Stelle betont er, es wäre ihm «nie eingefallen, einen gemeinen Dieb und Räuber zum Helden eines Drama zu machen» (ebd. 5. 56). Er ergänzt deshalb die Fabel dahin, dass Jaromir als Kind von Räubern entführt wird, in ihrer Mitte auf-wächst und dadurch seine Welt nicht als Bereich der Gesetzlosigkeit erfährt, sondern als die eigentliche, verpflichtende Ordnung seines Lebens.

Unter Räubern aufgewachsen,
Grossgezogen unter Räubern,
Früh schon Zeuge ihrer Taten,
Unbekannt mit milderm Beispiel … (1892 ff.)

hat er seine Jugend verlebt. Daher konnte er auch schuldlos bleiben,

               … wenn er übte,
Was die taten, die er liebte,
Und an seines Vaters Hand
Dem Verbrechen sich verband. (1904 ff.)

Wie sehr sich das Werk auch im Verlauf der Ausarbeitung veränderte – vor allem durch die sekundäre Verflechtung mit der Gespenstergeschichte –, es bleibt getragen von dieser fundamentalen Spannung, welche die dramatische Schöpferkraft Grillparzers ursprünglich reizte und ihn fast gewaltsam zur Ausführung seines erfolgreichen Erstlings trieb.

Wenn die dramaturgischen Grundsätze Schillers in seinen Entwürfen am reinsten hervortreten, so geschieht dies bei Grillparzer in jenen Stücken, welche seiner erfindenden Phantasie die geringsten Schranken setzten. Zu ihnen gehört das Märchenspiel «Melusina». Schon einige Jahre bevor der Dichter den Stoff zu dem von Beethoven erbetenen Opernlibretto gestaltete, hatte er ihn als Kinderballett entworfen; noch früher aber sah er darin die Möglichkeit zu einem eigentlichen Sprechstück. Auf dieser Stufe entstand das Szenar von 1817. Er suchte damals – es war die Zeit nach der «Ahnfrau» – einen «möglichst einfachen Stoff» für sein zweites Stück. Diese Forderung schien ihm offenbar von dem Nixenmärchen weitgehend erfüllt, sonst hätte er sich kaum so eingehend damit beschäftigt. Und tatsächlich bringt das Libretto, wie auch schon das Kinderballett, viele wesentliche Züge des Grillparzerschen Dramas geradezu modellartig zur Erscheinung. Als Ausgangslage finden wir wiederum zwei getrennte, grundsätzlich verschiedene Welten. Bemerkenswerterweise zeigt sich aber im Kinderballett noch keine Spur von der stark allegorisierenden Ausdeutung dieser Gegensätzlichkeit, wie sie das Libretto kennzeichnet. Es geht dem Dichter einzig darum, den verhängnisvollen Versuch einer Gemeinschaft zwischen Wesen verschiedener Daseinsordnungen smnnenfällig darzustellen. Und da erscheint es nun von grösster Bedeutung, dass Melusina nicht, wie es in den Märchen üblich ist, in menschlicher Erscheinung unter den Menschen auftritt, sondern von Anfang an in ihrem unterirdischen Märchen-schloss haust. Raimund, ihr Geliebter, muss sich daher nicht nur zur Liebe eines halbmenschlichen Wesens entschliessen, sondern seine Welt als Ganzes mit der völlig andern der Naturgeister vertauschen. Das gestattet dann dem Dichter, die sinnlich-gegenständliche Darstellung zweier verschiedener Bereiche zum tragenden Hintergrund des dramatischen Geschehens zu machen. In diesem Sinn tritt der Zauberpalast im Erdinnern, dem auf der Oberfläche die Welt des Waldes und der ritterlichen Jäger gegenüber steht, in unmittelbare Nachbarschaft zum Schloss der «Ahnfrau», das für die Vorstellung des Zuschauers von der Räuberwildnis ähnlicherweise umgeben ist. Hier wie dort verkörpert das Schloss als vielfältig gegliedertes Bauwerk, das durch Tore, Mauern und Vor-werke beinahe unzugänglich gemacht ist, eine bestimmte, abgegrenzte, selbständige Welt.

Wie verhält sich dies nun aber bei Grillparzers zweitem Märchenspiel: «Der Traum ein Leben»? Auch hier musste er sich ja in der Gestaltung völlig frei fühlen. Nach seinem eigenen Geständnis übernahm er den Stoff aus Voltaires Erzählung «Le blanc et le noir», einer abenteuerlich-wunderbaren Geschichte in orientalischem Dekor, wo zum Schluss der tödlich verletzte Held Rustan unversehens in seinem Bett erwacht und alles als Traum erkennt. Dieses Traummotiv ist bei Voltaire nicht mehr als eine unerwartete Pointe, ein witziger erzählerischer Coup, mit dem er dem Ganzen zum Abschluss einige Lichter aufsetzt. Auf Grillparzer aber übte offenbar die Tatsache einen mächtigen Reiz aus, dass hier einer, der seine Heimat – in der ganzen Bedeutung, die dieser Begriff für den Dichter hat – auf abenteuerliche Weise verlassen und sich rettungslos in der fremden Welt verstrickt hat, sich wunderbar und unverhofft zurückversetzt sieht. Dieses dramatische Erwachen Rustans ist denn auch die einzige Szene der Vorlage, welche Grillparzer ohne bedeutende Veränderung in sein Stück aufnahm. Wie bei der «Ahnfrau» die Vorstellung des Liebespaares im Schlosszimmer, dürfte es hier dieser Auftritt gewesen sein, an dem sich seine produktive Phantasie entzündete. Die Stelle lautet bei Voltaire: «Il se reveille en sursaut, tout en sueur, tout égaré, il se tâte, il appelle, il crie, il sonne. Son valet de chambre Topaze accourt en bonnet de nuit, et tout en bâillant. Suis-je mort, suisje en vie? s‘écriat Rustan; la belle princesse de Cachemire en réchappera-t-elle? … – Monseigneur, rêve-t-il? répondit froidement Topaze.»

Grillparzer macht daraus folgendes:

Rustan (emporfahrend und seine Arme befühlend)
   Leb ich noch? Bin ich gefangen?
   So verschlang mich nicht der Strom?
   Zanga! Zanga! O mein Elend!
Zanga (in seiner Haustracht, wie im ersten Aufzuge,
   tritt ein mit einer Lampe, die er hinsetzt)

   Endlich wach! Der Morgen graut!
   Und die Pferde stehn bereitet. (2539 ff.)

In dieser Szene verdichtet sich alles, was Grillparzer an dem Stoff als solchem faszinierte. Der Rest der Erzählung wirkte zwar in verschiedener Hinsicht anregend, lieferte Motive, einige Grundlinien der Handlung und das bunte, östliche Gewand, blieb aber letztlich von zweitrangiger Bedeutung.

Wenn wir das Stück nach den vorgängig erarbeiteten Gesichtspunkten betrachten, stellen wir fest, dass sich – noch abgesehen vom Traummotiv – Massuds Hütte und das Schloss von Samarkand polar gegenüber stehen als organische Zentren zweier homogener Welten. Sie bilden gleichsam die zwei magnetischen Pole, in deren Feldern sich der Held bewegt. Indem nun der eine Bereich als Traum gestaltet wird, also nicht mehr auf der gleichen Wirklichkeitsebene steht, ergibt sich einerseits eine schärfere Betonung der Gegensätzlichkeit beider Bezirke, anderseits aber die Möglichkeit, den grundsätzlich fatalen Charakter der progressiven Zeit zu überwinden, indem der Schluss auf mirakulose Weise wieder in den Anfang mündet. Die fundamentale Polarität der zwei Welten, die sonst unerbittlich ins Tragische führt, kann hier also dramaturgisch ausgestaltet und in einer durchgeführten Handlung zur Erscheinung gebracht werden, ohne dass am Ende die tödliche Konsequenz eintritt.

Ein verwandtes Beispiel ist «Weh dem, der lügt!». Die Grundstruktur erkennt sich leicht. Franken und der Rheingau bilden die zwei gegensätzlich strukturierten Bereiche. Grillparzer hat hier einmal mehr die Situation der Vorlage in seinem Sinn umgestaltet. Bei Gregor von Tours nämlich, dem Verfasser der zugrunde liegenden Erzählung, spielt das Geschehen zwischen Gallo-Romanen und Franken, wobei sich diese Stämme weder an kultureller Höhe noch an christlicher Gesinnung besonders unterscheiden. Der Dichter macht nun die feindlichen Völkerschaften zu Franken und Germanen und grenzt das westliche Gebiet als christlich und gebildet scharf gegen die krude Barbarei im Rheingau ab. Im Unterschied jedoch zum vorigen Märchenspiel stehen sich die zwei Welten nun wieder auf durchaus gleicher Ebene gegenüber: die Situation Leons entspricht also derjenigen eines Jason. – Man hat auf diese innere Verwandtschaft zwischen dem keck erfolgreichen Lustspielhelden und dem tragisch Scheiternden gelegentlich hingewiesen, dabei aber übersehen, dass hierin nicht eine Deutung, sondern vielmehr die eigentliche Problematik des Stückes liegt. Denn Grillparzer wäre nicht der grosse Tragiker, der er ist, wenn er seine dramatischen Handlungen nach dem augenblicklichen Belieben gut oder schlimm ausgehen lassen könnte. Das Geschehen, das er gestaltet, ist in einem solchen Grade je und je dasselbe, von einer so unerschütterlichen inneren Folgerichtigkeit, dass die Handlung, wie in «Der Traum ein Leben», eine vom üblichen Schema grundsätzlich abweichende Struktur erfordert, wenn sie glücklich enden soll. Das gleiche zeigt sich ja, nebenbei bemerkt, auch bei Kleist, wo im «Zerbrochenen Krug» die übliche Spannung zwischen dem irdisch-festgelegten Gesetz und dem Gefühl insofern verändert wird, als die Einführung einer zweiten Rechtssphäre, verkörpert in Gerichtsrat Walter, die erste relativiert und so die Wirkung von Adams Richterspruch entschärft. –

Wie aber begründet nun Grillparzer den guten Ausgang seines Lustspiels? Zu Beginn dieses Kapitels wurde gesagt, dass die Tragik bei ihm auf dem Gegenüber der zwei Welten beruhe, deren Gegensätze in keiner überspannenden Ordnung aufgehoben seien. Gerade eine solche aber konstruiert er nun in dieser Komödie: er bezieht die providentielle Macht Gottes als eigentlich dramaturgischen Faktor in das ganze Geschehen ein. Der Ansatzpunkt dazu findet sich, wie zu den meisten Motiven des Stücks, schon im Quellentext, in der «Histoire Françoise de S. Gregoire de Tours». Dort steht: «Leon sortit dehors de la chambre, accommoda les armes à Attalus, et par le vouloir de Dieu treuva la porte de la court ouverte, laquelle il (le barbare) avoit fermé à l‘entrée de la nuit avec des coigns …

C‘étoit la troisième nuit qu‘ils etoient en chemin, sans avoir gouté aucune viande, lors par la volonté de Dieu ils rencontrairent un prunier, dont ils prindent un peu de refection, des prunes d‘iceluy, puis entrerent en la champagne, par laquelle suivans leur chemin ils entendirent un bruit de chevaux petillans qui couroient, dont ils dirent, Descendons en quelque vallon, depeur que ceux qui nous suivent ne nous apperçoivent, et voicy qu‘à l‘instant sans que ils y prissent garde un grand buisson s‘aparut en ce heu, derriere lequel ils se mirent …» (I. 5. 329)

Es ist also von verschiedenen Wundern die Rede. Grillparzer fühlte wohl schon beim ersten Durchdenken des Stoffs, dass er sie, wollte er ein Lustspiel schreiben, auf irgendeine Weise beibehalten musste. Er nahm ihnen zwar um des kausalen Zusammenhangs willen das allzu Legendhaft-Unwahrscheinliche, legte aber ein verstärktes Gewicht auf die ständig fühlbare Gegenwart einer segensreichen höheren Macht. Mit dem Fortgang der Arbeit erschien ihm dies sogar immer dringlicher; denn kurz vor der endgültigen Niederschrift finden sich in den Notizen folgende Bemerkungen:

«Wie? wenn mehr der Himmel dafür sorgte, dass nicht gelogen wird, als dass es aus freiem Entschluss hervorginge.»

«Wunder! Wunder! Wunder!

«Dass etwa Gott selbst die gesagte Lüge zur Wahrheit machte.»

«Gott, Gott, Gott!» (I. 20. 263 f.)

Der Dichter erkannte also immer deutlicher, dass es unbedingt nötig war, das Walten der Vorsehung nicht nur als Glaubensgut der handelnden Personen erscheinen zu lassen, sondern – soweit dies einem modernen Publikum zumutbar schien – als unmittelbar anschauliches Ereignis zu gestalten. Allerdings führte er den Einfall, eine Lüge durch göttlichen Eingriff wahr werden zu lassen, nicht weiter aus, wohl weil er wusste, wie sehr durch einen solchen scheinbaren Angriff auf die moralische Integrität Gottes weite Kreise skandalisiert worden wären. Im übrigen aber wird das Thema durch das ganze Werk konsequent durchgeführt und an den Höhepunkten der Handlung klar herausgearbeitet:

Leon Was hilft denn sonst?
Gregor (stark) Gott! Mein, dein, aller Gott!
Leon (auf die Knie fallend)
   O weh, Herr!
Gregor          Was?
Leon                          Es blitzte.
Gregor                          Wo?
Leon                               Mir schiens so.
Gregor Im Innern hat des Guten Geist geleuchtet … (379 ff.)

Leon Eur Oheim harret euer, hört ihr wohl?
   Leis mit den Abendwinden, deucht mich, dringt
   Zu uns her sein Gebet, das schützt, das sichert,
   Und Engel mit den breiten Schwingen werden
   Um uns sich lagern wo wir wandelnd gehn.
   Ich möcht euch schmeicheln, wie man Kindern schmeichelt ?
(986 ff.)

Leon Wohlan, so gilt es denn das Letzte?
   Ich bitte nicht mehr Hilfe, nein, ich fordre –
   Ich bitte immer noch, ich bitte, Herr!
   Als ich von deinem frommen Diener schied,
   Da leuchtete ein Blitz in meinem Innern;
   Von Wundern sprachs, ein Wunder soll geschehn.
   Und so begehr ich denn, ich fordre Wunder!
   Halt mir dein heilig Wort! – Weh dem, der lügt!
(er springt auf)
(Die Tore gehen auf, Gewaffnete treten heraus, unter ihnen ein Anführer, glänzend geharnischt) (1681 ff.)

Diese ständige Ueberlagerung des Geschehens durch ein oberes Leitendes hebt die Heillosigkeit von Leons Abenteurertum, seine Verstrickung in der fremden Welt auf und führt zu einem tröstlichen Ausgang. Wir stehen, dramaturgisch gesehen, vor einer ähnlichen Situation wie bei Goethes «Iphigenie», wo sich die Gegensätze der griechischen und barbarischen Welt in der allgemeinen Idee der Humanität ausgleichen. Grillparzer hat immer wieder die entscheidende Bedeutung aller christlichen Elemente in diesem Werk betont und noch mit 80 Jahren scharf gegen die Absicht protestiert, den Bischof, wie bei der unglücklichen Uraufführung, nur als «Meister» oder «Domvogt» erscheinen zu lassen: «Es muss der Mann als Bischof auftreten, dann hat das Ganze einen Sinn. Er muss von einem katholischen Nimbus umgeben sein und einen Bischof lassen sie nicht auftreten.» (Gespr. VI. 75 f.)

Auch an den übrigen Werken Grillparzers lassen sich nun die bis jetzt aufgedeckten Gesetzmässigkeiten bald offener, bald versteckter nachweisen. «Libussa» beispielsweise ist von den zwei repräsentativen Bauwerken, dem «Wunderschloss der Weiber» (1539) und Primislaus‘ Hütte her organisiert, in denen sich die beiden opponierenden Bereiche auf unmittelbar augenfällige Weise verkörpern. Dabei fällt die Tatsache, dass es sich bei dem ersteren Zentrum einmal um die Burg der Schwestern, das andere Mal um den Königspalast Libussas handelt, aufs Ganze gesehen nicht ins Gewicht. Wesentlich ist allein die Spannung zur Welt des Primislaus.

Die «Ideen» aber, welche sich mit diesem Gegensatz verbinden, sind für den Dramatiker letztlich sekundär. Das wird indirekt von einer Notiz aus den Vorarbeiten bestätigt: «In dem Ganzen der Streit über den Vorrang der Männer vor den Weibern in den Vorgrund gestellt, obgleich es sich eigentlich um den Widerstreit der Gefühls- und Verstandeswelt, des goldenen Weltalters und der nüchternen Ordnung handelt.» (I. 20. 386.)

Ginge es dem Dichter vor allem andern um den «Sinn», dann könnte er schwerlich in dieser Weise zwischen drei, bei allen Gemeinsamkeiten denn doch recht verschiedenen Gedankenkomplexen schwanken. Gestalt und Lebendigkeit des Stücks entspringen einzig dem fundamentalen Spannungsbezug, wie er in dem Gegensatzpaar Schloss-Hütte exemplarisch zur Erscheinung kommt. Nur dort, wo das Werk gänzlich auf dieser Grundtension aufruht, ist die volle, starke Resonanz Grillparzerscher Dichtung da. Deshalb findet die Welt der Wladiken und des böhmischen Volkes ihre überzeugende Gestaltung erst dann, als Primislaus zu ihrem Repräsentanten geworden ist und sie so zum eigentlichen dramatischen Gegenbereich der Libussa-Sphäre gemacht hat. Nicht in Grillparzers sogenannter geistiger Erschlaffung, sondern in der Tatsache, dass die mittleren Teile des Werks auf weite Strecken gleichsam ausserhalb der eigentlichen dramatischen Kraftfelder liegen, ist die Ursache für ihren oft stumpfen Ton zu suchen. Hingegen durchdringt das für den Dramatiker lebenswichtige Spannungsverhältnis vibrierend den ganzen ersten Aufzug, der denn auch zum Grossartigsten gehört, was Grillparzer geschaffen hat. Diese Höhe kann erst im vierten Akt wieder erreicht werden, welcher, in Libussas Burg spielend, ausschliesslich der unmittelbaren Auseinandersetzung zwischen den beiden Protagonisten gilt. Im fünften Aufzug ist die Gesamtsituation endgültig geklärt, die Gegensätze stellen sich in tragfähiger Einfachheit dar und werden noch verstärkt durch die geschichtsphilosophische Vertiefung, auf welcher zuletzt das gedankliche Hauptgewicht ruht.

Es zeigt sich also, dass es Grillparzer in diesem Stück, das ihm so sehr am Herzen lag, und um das er wie um kaum ein zweites zu ringen hatte, nicht völlig gelungen ist, den gegebenen Stoff nach den notwendigen Bedingungen seiner Dramaturgie zu organisieren. Einen ähnlichen Fall stellt schon das frühe Erfolgsstück «Sappho» dar. Die Ausgangssituation scheint zwar durchaus dem Grundschema zu entsprechen. Sappho und Phaon sind die Liebenden, die aus getrenntesten Gegenden stammen: von der Insel Lesbos – dem Schauplatz des Werks – und aus dem Innern des griechischen Festlands. Sappho selbst vereinigt in paradigmatischer Weise alle Wesenszüge einer Grillparzerschen Dramenfigur auf sich. Sie ist, wie Medea mit der kolchischen Wildnis, aufs engste mit der Welt ihrer Insel verhaftet. Diese Insel, die durch das im Hintergrund sichtbare Meer im ganzen Stück betont als begrenzter Bereich dargestellt wird, entspricht damit Libussas Schloss und Melusinas Zauberpalast; und es ist durchaus folgerichtig, dass Sapphos fürstliche Wohnung nie auf der Bühne gezeigt wird. Alle Personen des Stücks, ausser Phaon, treten als Dienerinnen, Knechte oder freiwillige Untertanen der Dichterin auf und bilden so einen einheitlichen Hintergrund, welcher die Hauptfigur umfasst und widerspiegelnd beleuchtet. Wenn nun aber das dramatische Spiel eröffnet werden soll, in dessen Verlauf diese Frau an ihrer Leidenschaft zugrunde geht, dann muss die zweite Hauptfigur das Gegengewicht bilden können zur Sappho-Welt als Ganzem. Eben hier aber liegt die grosse Schwäche des Stücks. Ein Vergleich mit den «Argonauten» lässt dies deutlich werden. Jason, dem in Kolchis eine ähnliche Rolle wie Phaon in Lesbos zufällt, tritt dort nicht als Einzelner auf, sondern an der Spitze eines Trupps, als Repräsentant einer Macht, die es wagen darf, das fremde Land zu verachten und seiner Götter zu spotten. Das wird mit Nachdruck durch das riesige schwarze Schiff bestätigt, welches den Hintergrund der Szenen am Meer einnimmt. Der Grundkonflikt zwischen kolchischer und griechischer Welt findet somit schon im Land der Barbaren seine ganzheitliche, unmittelbare Darstellung. Phaon hingegen erscheint ohne Hintergrund; seine Herkunft, der «Eltern niedrer Herd», bleibt farblos-unbestimmt. Zwar wirkt er als Charakter durchaus überzeugend und ist psychologisch genügend durchgestaltet, um seine Rolle im rein seelischen Spiel der Leidenschaften zu erfüllen. Aber da er gleichsam keinen Raum um sich hat, während eben dies für Sappho in höchstem Masse gilt, werden die innersten Proportionen des Stücks gestört. Es handelt sich also, nach klassischen dramaturgischen Begriffen, hauptsächlich um einen Fehler in der Exposition.

Ueberzeugend «versinnlicht» wird Sappho nur als Herrin und Priesterin, – als Dichterin wird sie im Grunde genommen bloss bezeichnet. Wenn sich nun die Leidenschaft als tragischer, zum Weltverlust führender Prozess entwickeln soll, muss sie unbedingt dieses aristokratisch-priesterliche Dasein, welches Sapphos tiefstes Wesen ausmacht, in Frage stellen. So geht Libussa an Primislaus, geht Medea an Jason zugrunde. Durch die Liebe zu Phaon aber werden offensichtlich weder die Herrschaft noch das Priestertum in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Phaon hat nicht Anlass noch Möglichkeit, ihren Thron oder ihre Götter zu gefährden. Da er überhaupt keine überpersönliche Ordnung verkörpert, welche der Struktur von Sapphos Welt entgegengesetzt wäre, kann sich die Liebe zwischen den beiden nirgends zu einem tragischen Konflikt entwickeln. Die einzige Möglichkeit bestünde für den Dichter in der konsequenten Durchführung der Problematik des Altersunterschiedes, eines spezifischen Grillparzerschen Motivs, das später von grosser Bedeutung wird und im Rahmen seines Menschenbildes durchaus von immanenter Tragik ist. Dazu aber ist der Dichter zu jener Zeit entweder noch nicht reif genug, oder er sieht keine Möglichkeit, das vom Stoff geforderte tödliche Ende mit innerer Notwendigkeit zu entwickeln. Er treibt zwar die Handlung in dieser Richtung weit voran, dann aber drängt sich ihm mehr und mehr die unglückliche Idee eines Künstlerdramas auf, woran er anfänglich kaum gedacht hatte, und täuscht ihm einen gültigen Ausweg vor.

So legt er denn Sappho im zweiten Teil des Stücks einige Exkurse über die Unvereinbarkeit von Liebe und Dichtertum in den Mund und lässt sie an diesem Zwiespalt zugrunde gehen: eine Inkonsequenz, die um so bedauerlicher ist, als sich durch die Liebe zwischen Phaon und Melitta die anfänglich gestörten Proportionen des Ganzen zusehends ausgeglichen haben und ein aus den inneren Gegebenheiten wachsender, wenn auch vielleicht nicht tödlicher Ausgang durchaus möglich gewesen wäre. Das Werk hätte dann, der Grundstruktur nach, etwa mit Hofmannsthals «Rosenkavalier» verglichen werden können. Dennoch bleibt es bezeichnend, dass Grillparzer die Lösung nicht zu finden vermochte. Das, was für Schiller den idealen Schauplatz eines Dramas abgegeben hätte, die einheitlich regierte Insel, bot ihm von vornherein fast unüberwindliche Schwierigkeiten. Seine Menschen sind alle von ihrer Vergangenheit, von der Welt, aus der sie stammen, in ihrem tiefsten Wesen bestimmt. Da nun das Drama, wie gerade Grillparzer immer wieder betont, den höchsten Grad von «Gegenwart», von ganzheitlicher Präsenz der Figuren fordert, muss dieser Hintergrund, die Verkörperung des Gesetzes, wonach sie angetreten, sinnlich-augenfällig im Geschehen erscheinen. Das aber wird in «Sappho» durch die strenge Begrenzung des Schauplatzes weitgehend verunmöglicht. Das bewusste, von Grillparzer aus gesehen geradezu asketische Streben nach klassischer Einfachheit hinderte ihn daran, seinem ästhetischen Instinkt freie Bahn zu lassen. Sappho fasst zwar die Grundfrage, vor die sich die Gestalten Grillparzers je und je gestellt sehen, in klassischen Worten zusammen:

Von beiden Welten eine musst du wählen,
Hast du gewählt, dann ist kein Rücktritt mehr! (952 f.)

aber dieses Dilemma findet keine unmittelbar überzeugende Gestaltung.

So sehr das spürbar Schiefe, das Halbreife und Stockende in einem Werk wie «Sappho» nach einer entschlossenen Analyse verlangt, so gewaltsam erscheint dies angesichts von Grillparzers reinstem Liebesdrama, «Des Meeres ünd der Liebe Wellen». Die Dichtung ruht in einer so schwebenden, rhythmisch bewegten Harmonie, dass man fürchten muss, mit jeder unterscheidenden Gebärde die zauberhafte Aura zu vernichten. Dennoch ist gerade dieses Stück, in dem sich für viele das Wesen von Grillparzers Dichtertum am reinsten verkörpert, als Prüfstein für unsere Thesen von entscheidender Bedeutung.

Die räumliche Grundsituation, auf die sich unser Interesse zunächst richtet, wird vom Dichter vorsichtig aber sehr klar herausgearbeitet. Zwischen dem Tempelbezirk von Sestos und der Küste von Abydos liegt gefährlich und unberechenbar das Meer, das Element der Heimatlosigkeit, das in abenteuerlicher Fahrt überwunden sein will. Die beiden Landstriche aber sind sich «feind von je» (1557); zudem steht der Tempelbezirk noch unter einer eigenen, strengen Gesetzbarkeit, die ihn zu einem Bereich macht, wo andere Maßstäbe das Dasein bestimmenr Diesem geschlossenen Umfang gehört Hero an. Man kann nur mit grösster Bewunderung verfolgen, wie Grillparzer das Verhältnis des Mädchens zu ihrer Welt, zum Priesterreich um den Tempel, gestaltet. Sie muss zu Anfang in vollkommenem, innerem und äusserem Einklang mit dieser Umgebung gezeigt werden; darin besteht, wie wir nun wissen, die Hauptaufgabe der Exposition. Zugleich aber verlangt es die Konzeption der Figur, dass Hero kindlich-mädchenhaft erscheine, womit für Grillparzer, der seine Charaktere stets im Rahmen und in der Problematik ihrer Entwicklung sieht, sofort die Frage nach der Herkunft, nach dem Elternhaus gestellt ist. Von daher aber könnte die Einheitlichkeit von Heros Welt gefährdet werden, wenn nämlich für die junge Priesterin auch nur andeutungsweise ein Spannungsverhältnis zwischen Herkunft und Tempeldienst bestünde. Es wird schon aus den Vorarbeiten ersichtlich, dass sich Grillparzer dieser Gefahr durchaus bewusst war und die nötigen Massnahmen traf. Die erste Charakterskizze zur Hauptfigur lautet:

«Hero auf ihre Geburt stolz. Alle ihre Vorfahren Priester und Priestermnnen desselben Tempels» (I. 19. 191).

Kurz darauf ausführlicher: «Sie hat bis zu ihrem Zusammentreffen mit Leander in völliger Unbefangenheit gelebt. Von früher Jugend dem Tempeldienste gewidmet sagt das Würdige, alles Gemeine Ausschliessende, reinliche, Gemüthsruhe Bewahrende desselben, ihrem aufs Rechte gestellten Sinne vorzugsweise zu. Die Priesterwürde war in ihrer Familie erblich, und sie rechnet sichs zum höchsten Glücke das hohe Vorrecht ihrer Ahnen in ihrer Person zu bewahren und fortzusetzen» (I. 19. 193). Und unmittelbar vor der ersten Niederschrift notiert sich der Dichter ein weiteres Motiv, das dann allerdings unausgeführt blieb: «Gemeinschaft eines Stammvaters mit den Göttern?» (I. 19. 233). Die Uebernahme des hohen Amtes kann also für Hero in keiner Weise einen Bruch mit dem bisherigen Leben bedeuten. Das Priestertum ist von Anfang an Ziel und Sinn ihres Daseins, und selbst die Weihezeremonie stellt weniger eine Stufe als eine Bestätigung dar. Wie sehr der Dichter den Stoff ganz von diesen Grundbezügen her durchdachte, erweist sich noch aus einer weiteren Einzelheit der Vorarbeiten. Es ist bei Grillparzer immer wieder die Figur des Vaters, welche Wesen, Gesetz und Macht einer bestimmten Welt verkörpert. In diesem Sinn steht Aietes zu Medea, Kattwald zu Edrita und in unserem Fall der Oberpriester zu Hero. Die Figur von Heros eigentlichem Vater aber umreisst Grillparzer folgendermassen: «Der Vater (spricht) viel, sobald aber sein Bruder (der Oberpriester) einer andern Meinung ist, nimmt er die seinige nicht zurück, sondern vergisst, dass er sie gehabt hat, und stimmt sonach in allem mit seinem Bruder überein» (I. 19. 198). Dies scheint auf den ersten Blick anekdotisches Beiwerk zu sein, bei genauerer Betrachtung aber bestätigt der Abschnitt durchaus das oben Gesagte. Der Vater darf um der Einheitlichkeit von Heros Welt willen dem Oberpriester gegenüber keine Selbständigkeit aufweisen, er muss vielmehr durch sein blosses Erscheinen die Vaterschaft gleichsam an jenen abtreten und so dessen Stellung im dramatischen Spannungsfeld verstärken und eindeutig machen.

Dies kann, nebenbei bemerkt, als Beispiel gelten für die Tatsache, dass der Dichter seine Figuren bei aller psychologischen Differenzierung stets im Zusammenhang mit ihrer Funktion im Handlungsgefüge betrachtet.

Die räumlich-polare Grundstruktur der Grillparzer-Dramen findet ihren symbolhaften Ausdruck immer wieder in bestimmten Bauwerken. Vor allem der Gegensatz von Schloss und Hütte – als reiner Bezug, von aller gedanklichen Ausdeutung abgesehen – spielt dabei eine bedeutende Rolle. Er findet sich mit einigen Abweichungen auch in der Hero-Tragödie. Der Aphrodite-Tempel und Leanders Fischerhütte sind die beiden sinnlich fassbaren Gegenpole, aus denen die Figuren gleichsam heraustreten zum agonalen Spiel. Jedes dieser zwei Gebilde vertritt einen durchaus selbständigen, eigengesetzlichen Schicksalsbereich, der sich vom andern grundlegend unterscheidet. Die Voraussetzungen zur tragischen Handlung sind damit erfüllt. Diese nun besteht, schematisch gesprochen, im leidenschaftlichen Ausbruch der Protagonisten aus ihrer Welt, in ihrer Verstrickung mit dem Gegenbereich und im Untergang an diesem Zwiespalt, begründet in der Unfähigkeit der Helden, sich verwandelnd die Vergangenheit zu überwinden und eine neue Heimat zu erwerben. So führt auch die Liebe zwischen Jason und Medea nicht zu einem Dasein auf neuer Stufe, zur Wiedergeburt aus höherer Begattung, sondern zu einem qualvoll-verzweifelten Kampf der Geschlechter, der in dumpfer Lethargie sein Ende findet. Dennoch gab es für Medea und Jason einst ein erfülltes Glück:

Nur einen Schritt komm in die schöne Zeit,
Da wir in unsrer Jugend frischem Grünen
Uns fanden an des Phasis Blumenstrand.
Wie war dein Herz so offen und so klar,
Das meine trüber und in sich verschlossner,
Doch du drangst durch mit deinem milden Licht,
Und hell erglänzte meiner Sinne Dunkel.
Da ward ich dein, da wardst du mein. O Jason! (Med. 1476)

Dieses kurze, selige Dasein war nur möglich auf der abenteuerlichen Fahrt, wo beide in der Fremde waren, losgelöst von jeder Bindung, im Niemandsland zwischen den beiden Welten. So ist auch für Sappho und Phaon die Reise auf dem Schiff eine Zeit fraglosen Glücks; erst in Lesbos beginnen die Mächte der Bestimmung wieder unheilvoll zu wirken. Das weite Meer steht immer wieder symbolisch für den Bereich der Bindungslosigkeit, wo Mass und Gesetz aufgehoben sind und der abenteuerliche Mensch für kurze Zeit eine trügerische Autonomie erreicht.

Das bestätigt sich nun auf überragende Weise in «Des Meeres und der Liebe Wellen». Während die Zeit der reinen Seligkeit in «Sappho» und «Medea» nur rückblickend kurz erwähnt wird, steht sie in diesem Werk voll im Mittelpunkt. Alles ordnet sich hier um die Begegnung der Liebenden, welche traumhaft-ahnungslos ihre gesetzten Bahnen verlassen und für einen unendlichen Augenblick eine neue Mitte des Daseins finden, die jede andere Ordnung stürzt und allem einen neuen Maßstab setzt.

Du Frühlingsgott, du Schöpfer einer Welt

redet Hero in einer Lesart den toten Leander an (I. 19. 235).

Der Turm aber ist es, der für die beiden zum Zentrum dieser neuen Welt wird. Er scheint losgelöst zu sein aus dem Tempelbezirk, von Sestos ebensoweit entfernt wie von Abydos. Zu ihm gehört nur das Meer, das «brausend wilde», in jenem oben erwähnten Sinn als das Bindungslose schlechthin, das Reich der tödlichen Freiheit. So erscheint er auch in den Worten des Tempelhüters:

Und oben wars so laut und doch so heimlich,
Ein Flüstern und ein Rauschen hier und dort;
Die ganze Gegend schien erwacht, bewegt.
Im dichtsten Laub ein sonderbares Regen,
Wie Windeswehn, und wehte doch kein Wind.
Die Luft gab Schall, der Boden tönte wider,
Und was getönt und widerklang, war: nichts.
Das Meer stieg rauschend höher an die Ufer,
Die Sterne blinkten, wie mit Augen winkend,
Ein halb enthüllt Geheimnis schien die Nacht.
Und dieser Turm war all des dumpfen Treibens
Und leisen Regens Mittelpunkt und Ziel.
Wohl zwanzigmal eilt ich an seinen Fuss.
Nun meinend, nun das Rätsel zu enthüllen,
Und sah hinan; nichts schaut ich, als das Licht,
Das fort und fort aus Heros Fenster schien.
Ein einzigmal lief wie ein Mannesschatten
Vom Meeresufer nach dem Turme zu;
Ich folg und, angelangt, war wieder nichts,
Nur Rauschen rings und Regen, wie zuvor. (1303 ff.)

Wir müssen auch hier, wo Grillparzers Sprache ihre höchste Vollendung erreicht, alles, was nicht in unsern unmittelbaren Zusammenhang gehört, ausser Acht lassen. Die Stelle ist so unausschöpfbar wie das ganze Werk. Für uns aber ist daran bedeutsam, dass in dieser chorartig-kommentierenden Rede der Turm als das ganz Andere geschildert wird, das nicht zur Umgebung gehört, als das Zentrum geheimnisvoll gefährlicher Zauberei. Wie Tempel und Hütte für die innere Anschauung den Rahmen des Stückes bilden, so steht der Turm in der Mitte; nicht als Verkörperung eines dritten, gleichberechtigten Bereichs, sondern als die Negation der beiden andern, als Raum des schlechthin Gesetzlosen, der frevelhaften Hybris, die Brauch und Ordnung in Frage stellt und von deren Vertreter, dem Oberpriester, um des Allgemeinen willen vernichtet werden muss. Denn für Hero und Leander gilt das gleiche wie für alle Paare Grillparzers: sie sind nicht fähig, der neuen Welt, die sie sich schaffen, Bestand zu verleihen, und gehen so nach kurzem Traum an der Uebermacht der installierten Ordnung, an ihrer eigenen Vergangenheit zugrunde. Ihre Liebe gehört zum Meer, dem tödlichen Element, das sie ermöglicht und ihr zugleich jede Dauer versagt.

Von daher fällt nun auch ein neues Licht auf den Titel des Stücks. Nach Sauer war Grillparzer hingerissen vom Klang der griechischen Worte […]; er machte sie, nach langem Zögern, zur Ueberschrift seines Werks. Man mag dies vielleicht bedauern, den tiefen Sinn aber kann man nicht bestreiten.

In den bisherigen Untersuchungen sind wir stets vom vollendeten Werk ausgegangen und haben den oft komplizierten und langwierigen Entstehungsprozess unerwähnt gelassen. Wir fühlten uns dazu berechtigt, weil es hier nicht um Totalinterpretationen geht, sondern um die Freilegung einiger bestimmter Phänomene. Nun gibt es aber bei Grillparzer Werke, für welche eine Kenntnis der Genese besonders aufschlussreich, wenn nicht sogar unerlässlich ist. Zu ihnen gehören die «Jüdin von Toledo» und das «Esther»-Fragment. Das erste Stück erweist sich nämlich bei genauer Betrachtung als die bereinigte Umgestaltung des zweiten. Die Konzeption der «Esther» enthält einige für Grillparzer sehr bezeichnende dramaturgische Schwierigkeiten, die sich schwer hätten lösen lassen und die ihm offensichtlich nach Fertigstellung der zwei ersten Akte die Lust an der Weiterführung schmälerten. Da sich nun zugleich mit den Vorarbeiten zu diesem Werk auch jene zur innerlich verwandten «Jüdin von Toledo» entwickelt hatten und die beiden Stoffe sich mit fortschreitender Ausgestaltung zu konkurrenzieren begannen, stellte der Dichter die Arbeit an dem biblischen Stück ein.

Die Niederschrift von «Esther» hebt 1830 an, setzt sich 1839 fort und bricht 1848 ab. «Die Jüdin von Toledo» wird in ihrer jetzigen Gestalt 1839 begonnen, 1848 wieder aufgenommen und bis zum Frühjahr 1851 fertiggestellt. Der Verzicht auf das eine Werk hat also offensichtlich Raum geschaffen für das andere. Dies ist vielleicht das augenfälligste Beispiel für die Art, wie bei Grillparzer ein bestimmter Stoff, nachdem er dramaturgisch bereits weitgehend organisiert ist, in einen andern aufgehen kann. In diesem Sinn ist das Märchenspiel «Der Traum ein Leben» mit dem früheren «Faust»-Plan verwandt, und gleichermassen können grosse Teile der Römer-Dramen als indirekte Vorarbeiten zum «Ottokar», die «Drahomira»-Pläne als Studien zur «Libussa» bezeichnet werden. Die Skizzen und Entwürfe Grillparzers sind also in keiner Weise nur als aufgestapeltes Rohmaterial zu betrachten; der Dichter verfährt mit seinen Ideen überaus ökonomisch. Fast alle Werke gehen auf früheste Anregungen zurück, die oft erst nach jahrzehntelanger Anreicherung und etlichen Metamorphosen zur endgültigen Gestaltung führten. In seinem letzten Stück gibt es zentrale Motive, die sich schon in den allerersten Plänen, in «Rosamunde Clifford» und «Lukrezia Creinwill» finden. (Vgl. die Darstellung dieser Stoffe bei Wartburg, a. a. O. S. 11 ff.)

Bei oberflächlicher Betrachtung scheint Grillparzers Verhältnis zur «Esther» und zur «Jüdin von Toledo» durchaus dem Schwanken Schillers zwischen «Warbeck» und «Demetrius» zu entsprechen. Ein Vergleich aber zeigt, dass sich gerade an diesem Beispiel der Unterschied in der Arbeitsweise, ja im tiefsten Wesen der beiden Dichter überzeugend manifestiert. Wenn Schiller einmal in einen Stoff, nach den Worten Goethes, «kühn hineingegriffen» hatte, dann begann zugleich mit der erregten Ausgestaltung von Szenen und Figuren der gegensätzliche Prozess einer bewussten Distanzgewinnung. Schillers unterscheidender Verstand forderte die genaue Kenntnis der Texturgesetze seiner Wirkarbeit. Erst das abstrakte Konstruktionsschema zum Handlungsablauf wie zu den einzelnen Figuren gab ihm die gestalterische Sicherheit. Aus diesem Grunde erkannte er sehr früh die innere Verwandtschaft des «Warbeck»- und des «Demetrius»-Stoffes. Nachdem er sich die zwei Fabeln klargelegt hatte, stellte er die Eigenarten der beiden in einer Liste einander gegenüber, verglich die Summen der Vor- und Nachteile und traf die Entscheidung. (Vgl. Säk. Ausg. Bd. 8, S. 115 f.) Grillparzer dagegen war sich des engen Verhältnisses der «Esther» zur «Jüdin von Toledo» möglicherweise gar nie bewusst. Seine produktive Phantasie blieb stets auf die ungebrochene Nähe zum sinnlich Gegenständlichen angewiesen. Eine ständige Beachtung des rein abstrakten Gefüges hätte seine schöpferische Kraft gelähmt. Goethe sagte von Schiller: «Er sah seinen Gegenstand gleichsam nur von aussen an, eine stille Entwicklung aus dem Innern war nicht seine Sache» (1825 zu Eckermann). Eben diese nüchterne Betrachtung «von aussen» aber empfand Grillparzer für sein Schaffen als eine Gefahr. Er rang beständig und oft verzweifelt um Einfühlung und Einstimmung, gehetzt von seiner eigenen, erbarmungslosen Kritik. Deshalb bestehen seine Vorarbeiten fast durchwegs aus Charakterstudien, aus Skizzen zu prägnanten Szenen und Ereignisketten, welche dramaturgisch kaum definiert werden. Für die Interpretation der Dramen hat dies zur Folge, dass alle Aufbaugesetze aus dem Ueberblick über das Ganze gewonnen werden müssen. Grillparzer stellt keine formulierten Ordnungsprinzipien zur Verfügung, die dann am Werk selber nachzuweisen wären. Das einzige Kriterium für die Richtigkeit irgendwelcher Thesen über seine Dramaturgie besteht deshalb in der Konstanz der Phänomene, worauf sich denn auch unsere ganze Arbeit richten soll. Zur Bestätigung dieser Methode berufen wir uns auf zwei Aussagen Goethes in den «Maximen und Reflexionen»: «Die Konstanz der Phänomene ist allein bedeutend; was wir dabei denken ist ganz einerlei. – Kein Phänomen erklärt sich an und aus sich selbst; erst viele, zusammen überschaut, methodisch geordnet, geben zuletzt etwas, das für Theorie gelten könnte» (Max. u. Ref. 499/500).
Die Vorlage zu Grillparzers grossem Fragment bildete in erster Linie das Buch «Esther» des Alten Testaments. Dort stiess der Dichter auf eine Situation, die seine besondere Aufmerksamkeit erregen musste, auf die Geschichte der Juden in der babylonischen Gefangenschaft und die Auseinandersetzung des strenggläubigen Volkes mit der heidnischen Macht. Diese Auseinandersetzung aber war verflochten mit einer heroischen Liebesgeschichte. Damit stand Grillparzer vor einem für ihn klassischen Dramenstoff: die Repräsentanten zweier fremder, verschiedenen Gesetzen unterworfener Welten geraten in einen leidenschaftlichen Konflikt, welcher ihr Verhältnis zu der sie bestimmenden höheren Ordnung in Frage stellt.

Dieses fundamentale Spannungsverhältnis wird in der Exposition des Werks auf eine Weise versinnlicht, wie sie uns bereits vertraut ist. Mardochais Hütte bildet den anschaulichen Gegenpol zum mauerbewehrten Schloss des Perserkönigs. Sie wird folgendermassen vorgestellt:

(Ländliche Gegend ausser den Mauern von Susa. Im Hintergrund links ein Hütte. Esther kommt von der rechten Seite und tritt zur Türe der Hütte.)
Esther Macht auf! Macht auf! Ihr zahlt es mit dem Leben!
   Ich bin es, Esther, eure gute Tochter.
   Ich rüttle an der Tür, macht ihr nicht auf,
   Weiss Gott! ich breche, schädge Schloss und Riegel.
   Nun endlich gibt sie nach. Er hat geöffnet.
(Die Tür geht auf. Mardochai tritt heraus, bleich und verstört.)
   Esther Dacht ich es doch! Wie soll, wie kann das enden?
   Die ganze Nacht habt ihr kein Aug geschlossen,
   Bliebt über euren Schriften, Büchern wach … (331 ff.)

Sowohl Mardochai wie Esther treten hier zum ersten Mal auf. Die Szene bildet daher die eigentliche Expositon der Judenwelt als des einen Spannungszentrums; die andern Teile des Fragments spielen durchwegs vor oder in der königlichen Burg. Durch das versperrte und verriegelte qehäuse, wo Mardochai, mitten im Reich der Heiden, priestergleich über den heiligen Büchern sitzt, wird die Eigenständigkeit und der Stolz Israels sichtbar dargestellt. Das ganze Gespräch, welches auf das obige Zitat folgt, dreht sich denn auch um die Grösse des jüdischen Volkes und um die Notwendigkeit, sich bereitwillig in deren Dienst zu stellen.

O, dass du fühltest solcher Abkunft Wert!
Dass nur ein Funke jenes Geists in dir,
Der Deborah beseelte, Jahel stärkte
Und Judith schuf zur Heldin ihres Volks. (402 ff.)

Mardochais Verhältnis zu Esther entspricht, prinzipiell betrachtet, durchaus demjenigen zwischen Oberpriester und Hero. Beide Männer stehen bedingungslos im Dienst des Allgemeinen, der heiligen Ordnung ihrer Welt, und verlangen dasselbe auch von den ihnen anvertrauten Mädchen. Aus diesem Grunde fordert der Oberpriester von Hero das reine, vestalische Dasein, verlangt Mardochai, dass Esther dem königlichen Werber folge.

Im Aufbau des Gegenbereichs aber zeigt sich nun die erwähnte Schwierigkeit für Grillparzer. Schon vor der Begegnung mit Esther hat König Ahasver seine Gattin Vasthi verstossen. Dieses Geschehnis zerstörte sein inneres Gleichgewicht. «Der König hat das Vertrauen in Menschen verloren», notiert sich Grillparzer in den Vorarbeiten (I. 21. 451). Im ausgeführten Werk wird von ihm gesagt:

Doch hat es bitter sich an ihm gerächt.
Denn, lebend in Erinnerung ihrer Schönheit
Irrt er durchs Schloss, er selbst sich selbst entfremdet. (98 ff.)

Er ist mit seinen Höflingen und Beratern, mit allem, was zu seinem bisherigen Dasein gehörte, zerfallen und in eine plötzliche Einsamkeit geworfen.

Verschlossen in dem Innern der Gemächer,
Entzieht er sich des Reiches, seinen Dienern,
Verweigert Antwort, Auftrag und Befehl,
Unmächtig, kraftlos liegen die Geschäfte …
Und alle Räder stocken dieses Staats. (167 ff.)

Durch die Verstossung der Gattin hat er den Zusammenhang mit seiner Welt in jener Weise verloren, wie es immer wieder das tragische Geschick von Grillparzers Figuren ist. Diese Charakterzeichnung Ahasvers ist im biblischen Quellentext nicht vorgebildet. Dennoch beruht sie durchaus nicht nur auf dem zufälligen Belieben Grillparzers. Die Tatsache nämlich, dass der König seine Gattin verstossen hat – was in der Schrift bloss als nüchternes Detail, als nicht weiter verwunderliche Handlung eines Alleinherrschers erwähnt wird – stellt ihn für den Dichter mit unmittelbarer Notwendigkeit in bestimmte anthropologische Zusammenhänge. Schon in «Medea» und «Ottokar» ist das Motiv der gewaltsamen Ehetrennung von zentraler Bedeutung. Indem er Medea verstösst, versucht Jason mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung, seine Vergangenheit loszuwerden und verfällt dadurch endgültig deren tödlicher Uebermacht. Ottokar bricht in der verblendeten Unbekümmertheit des Täters mit Margarete und bringt sich damit um eben jene Freiheit, die er durch den selbstherrlichen Schritt befestigen will; um die Zukunft zu beherrschen, schafft er sich, der bisher gleichsam zeitlos gelebt hat, eine Vergangenheit, deren lähmende Last ihn zugrunde richtet.

Im «Esther»-Stoff nun fand der Dichter nicht nur die Möglichkeit, diesen Vorgang ein weiteres Mal zu gestalten, er war vielmehr von seinem Menschenbild her geradezu gezwungen, den König als einen Mann darzustellen, welcher aus seiner innern Heimat verschlagen und damit «sich selbst entfremdet» ist. In der «Medea» wie im «Ottokar» ist es nun aber so, dass die unheilbringende Verstossung unmittelbar zusammenhängt mit der Hinwendung zu einer andern Frau, dass also der Selbstverlust ebenso sehr durch die neue Liebe wie durch die Abkehr von der alten Bindung bewirkt wird. Kreusa wie Kunigunde stehen denn auch, obschon ahnungslos, im Bannkreis der Schuld, und diese eine, verblendete Tat zu Beginn des Stücks begründet die innere Notwendigkeit der ganzen folgenden Handlung. In «Esther» aber fällt dieser Nexus auseinander. Die Verstossung Vasthis und der innere Zusammenbruch des Königs ereignen sich, bevor Esther zum Ganzen in eine Beziehung tritt. Das hat zur Folge, dass der «zerstörte, im Innersten verwandelte» (276) König als verliebter Werber auftreten muss, was der Unaufhaltsamkeit der inneren Entwicklung einer Grillparzerfigur widerspricht. Zwar wirkt es auf der Bühne nicht unglaubhaft, aber aus dem einzigen Grunde, weil sich das ganze Geschehen um Vasthi vor Beginn der Handlung abspielte. Für den auf höchste Einfühlung angewiesenen Dichter bleibt die Schwierigkeit durchaus bestehen.

Man kann sich zwar vorstellen, dass eine Vollendung des Werks trotzdem möglich gewesen wäre, – wenn man jedoch bedenkt, dass Grillparzer zur gleichen Zeit in einem andern Stoff eine ähnliche Fabel fand, in welcher alle diese Schwierigkeiten bereits gelöst waren, wird es verständlich, dass sich sein Interesse von «Esther» abwandte.

Jenes andere Stück ist, wie gesagt, die «Jüdin von Toledo». Der Grundriss des Werks deckt sich insofern mit «Esther», als auch hier der königliche Hof als geschlossene Welt erscheint, die durch das Liebesverhältnis des Königs zur Auseinandersetzung mit einem vollig anders gearteten, in Hinsicht auf die angedeutete Judenverfolgung sogar feindlichen Bereich gezwungen wird. Die beiden Pole im räumlichen Spannungsverhältnis finden hier allerdings keine so unmittelbar anschauliche Darstellung wie im «Esther»-Fragment. Die Behausung Isaaks und seiner Töchter im Ghetto von Toledo wird nur kurz erwähnt, aber nie gezeigt. Das hängt mit der ausserordentlichen Knappheit des ganzen Stücks zusammen; denn jene übliche Art der Exposition erfordert eine gewisses episches Verweilen. Um also die rhythmische Rasanz des Werks von Anfang an zu sichern, stellt Grillparzer keine symbolischen Verkörperungen der opponierenden Bereiche in demonstrativem Nacheinander auf die Bühne – wie etwa Hütte und Schloss in «Esther» oder «Libussa», – sondern lässt die handelnden Personen im ersten Akt als zwei verschiedenartige, geschlossene Gruppen sich begegnen. Durch diese unmittelbare Konfrontation, in welcher die Juden als eine vom königlich-höfischen Bereich bedrohte Schicksalsgemeinschaft erscheinen, wird die Gegensätzlichkeit der beiden Welten so scharf hervorgehoben, dass es der Dichter wagen darf, gleichzeitig schon auf deren immanente Spannungen aufmerksam zu machen. So tritt das Brüchige der Beziehung zwischen König und Königin in den Untertönen des Gesprächs fühlbar hervor, und gleicherweise zeigt sich das seltsam bindungslose und doch wieder enge Verhältnis Rahels zu Vater und Schwester.

Der grosse Unterschied gegenüber «Esther» liegt nun darin, dass die Handlung gleichsam um eine Stufe früher einsetzt. Der Ehekonflikt ist noch nicht ausgebrochen; Alfonso erscheint inmitten seines Hofes als fragloser Teil des organischen Ganzen. Seine Liebe zu Rahel und die Abkehr von der Königin entwickeln sich deshalb nicht – wie Ahasvers Beziehungen zu Vasthi und Esther – auf völlig von einander getrennten Bahnen, sondern bilden die zwei komplementären Dimensionen eines einzigen Prozesses. Dadurch wird die Gestalt des Königs in ihrer anthropologischen Struktur eindeutig umrissen.

Auch die Konfiguration der handelnden Personen ist in diesem Stück, verglichen mit dem vorigen, klarer herausgearbeitet. Neben dem König steht Manrique, der Vertreter strenger Rechtlichkeit, welcher die Forderungen der für Alfonso verpflichtenden höheren Ordnung vertritt. Gleicherweise ist auch die Gruppe der Juden sorgfältig ausbalanciert; zu Rahel gehört ihr Vater Isaak, der durch seine krämerische Eigensucht und Bestechlichkeit den dramaturgisch notwendigen Gegensatz zur extremen Rechtlichkeit des Hofes verschärft. Diese Art der Kontrastierung der zwei Welten fand sich schon in «Esther», nur war es dort die Umgebung des Königs, welche sich einheitlich durch kriecherisch-aufsässige Korruption kennzeichnete, und der Jude Mardochai verkörperte die gegenteilige Haltung. Neben Isaak steht aber auch seine ältere Tochter Esther, die unbestechlich Gerechte, welche zwar nicht in die Handlung eingreift – um des Grundgefüges willen nicht eingreifen darf! – ihrer Welt aber ein starkes moralisches Gewicht und damit die nötige Eigenständigkeit verleiht. Grillparzer bringt also in diesem Stück die Struktur vor allem durch die Gruppierung der Figuren zur Darstellung und weniger durch repräsentative Bauten, wie er es sonst häufig liebt. Man muss sich indessen bewusst sein, dass auch die Kostüme, die er ja immer mitdachte, in dieser Hinsicht eine nicht geringe Rolle spielen. Die jüdische Familie sticht schon ihrer äusseren Erscheinung nach von der steifen Pracht des Hofes scharf ab.

Wir erinnern uns an die Rolle des Turms in «Des Meeres und der Liebe Wellen». So wie dieser eine gleichsam neue Welt verkörperte, einen dritten Pol im Spannungsgefüge, so geschieht das hier mit dem Lustschloss Retiro, wo Alfonso mit Rahel lebt. In ihm verdichtet sich ein Raum der Bindungslosigkeit, der radikalen Freiheit, wo Liebe möglich wird, von wo aus aber zugleich der Absolutheitsanspruch jeder installierten Ordnung in Frage gestellt wird. Daher verfällt auch Retiro einem fürchterlichen Gericht. Der fünfte Aufzug beginnt so:

(Saal im Schloss zu Retiro, mit einer Mittel- und zwei Seitentüren. Ueberall Zeichen der Zerstörung. Links im Vor-grunde ein umgestürzter Putztisch mit zerstreutem Geräte. Rechts im Hintergrunde ein gleichfalls umgeworfener Tisch, darüber ein Gemälde, halb aus dem Rahmen herausgerissen. In der Mitte des Gemaches ein Stuhl. Es ist dunkel. Von aussen, hinter der Mittelwand, Geräusch von Stimmen, Fusstritte und Waffen geklirr, endlich)
Von aussen Es ist genug.
                     Das Zeichen tönt!
                                       Zu Pferde!
(Die Stimmen und die Fusstritte entfernten sich. – Pause –) (1575)

Die Mitte dieses schrecklichen Anblicks aber ist, unsichtbar, doch um so wirklicher, die erschlagene Jüdin von Toledo. Der Mord allein genügt nicht; der ganze Raum um sie herum muss in Stücke geschlagen werden, damit das Aergernis vertilgt sei vom Angesicht der Erde. Wie Heros Turm zuletzt dasteht als sinnlos-leeres Gemäuer, so erscheint auch das Lustschloss wie eine Ruine: zerfallender Ueberrest verwehten Zaubers.

Als Grillparzer 1826 von der Deutschlandreise, die er zur Ueberwindung seines immer stärker hervortretenden Trübsinns unternommen hatte, zurückkehrte, trug er sich mit der Absicht, von nun an jedes Jahr ein Stück zu schreiben und «dem hypochondrischen Grübeln für immer den Abschied zu geben». Auf der Suche nach geeigneten Fabeln hatte er sich schon früher der ungarischen Geschichte zugewandt und war dort auf die Erzählung «jenes Aufruhrs» gestossen, «der gegen den König Stephan und seine bayerische Gemahlin Gisela teils wegen der Bemühungen dieser letzteren für das Christentum, teils aus alter Abneigung gegen die Deutschen entstand». Weiter heisst es dazu in der Selbstbiographie: «Alles Licht wäre auf die Königin Gisela gefallen.» Er war dann aus äusseren Gründen wieder davon abgekommen, hatte jedoch das Stoffgebiet im Auge behalten und wandte ihm nun seine ganze neuerwachte Arbeitskraft zu. «Bei Durchgehung der ungarischen Chronisten geriet ich auf den Palatin Bancbanus, dessen Geschichte ich darum eine Sage genannt habe, weil das selbe Ereignis in zwei Epochen mit geringen Verschiedenheiten zweimal vorkommt und daher wahrscheinlich nichts als eine Einkleidung für die Abneigung der Ungarn gegen die Deutschen ist» (Bong 14, S. 124).

Grillparzers Inspiration hatte sich also bei jenem ersten Stoff offensichtlich an der Gestalt einer Königin entzündet, die als Deutsche in einem Lande lebte, welches ihrem Volk feindlich gesinnt war. Als er nun bei seiner weiteren Lektüre auf die dramatisch reichere Geschichte Banchans traf, wo sich genau der gleiche Sachverhalt vorfand, zudem mit der Erweiterung, dass jetzt als zentrale Figur im ganzen Geschehen neben die Königin noch ihr Bruder trat, in ein Liebesverhältnis mit einer adeligen Ungarin verwickelt, da entschloss er sich zu einem Ausarbeitungsversuch.

Es ist wohl nicht mehr nötig, darauf hinzuweisen, wie sehr der Rohbau dieses Stoffes Grillparzers Eigenarten als Bühnendichter entsprach. Einmal mehr stand er hier vor einem Geschehen mit starken, leidenschaftlichen Höhepunkten, das auf einem Spannungsverhältnis zwischen zwei nach Denkart und Lebenshaltung grundsätzlich verschiedenen Menschengruppen beruhte. Um nun diese fundamentale Polarität im Werk selbst von Anfang an zu sichern, legt der Dichter ein ausserordentliches Gewicht auf die enge Beziehung zwischen Otto und der Königin; denn diese beiden bilden ja gegenüber allen andern das eine dramatische Kraftfeld. So sagt Gertrude über ihren Bruder:

Doch er, an seiner Wiege stand ich schon,
Er war die Puppe, die ich tändelnd schmückte;
Mein Vaterland, der Eltern stilles Haus,
Mein erst Gefühl, die Kindheit lebt in ihm …
Er ist mein Ich, er ist der Mann Gertrude,
Ich bitt euch, trennt mich nicht von meinem Selbst. (318 ff.)

Und später spricht sie zu ihm:

                                 Mein Bruder, höre!
Geh nicht von mir, du meines Lebens Glück,
Lass mich allein nicht hier in dieser Wüste,
Wo du der einzge bist, der einzge der da lebt!
Mein Ich, mein Selbst, mir teurer als mein Selbst! (1097 ff.)

In einer Lesart dazu nennt sie ihn «mir theurer als mein Leben, als Kind und Gatte» (I. 18, 515). Obwohl sie Königin von Ungarn ist und geliebte Gemahlin, steht sie ihrer ganzen Umgebung fremd gegenüber; sie fühlt sich in eine Wüste verschlagen und sogar vom König innerlich getrennt. Damit aber kommt dieser selbst entschieden auf die andere Seite des zweipoligen Spannungskomplexes zu stehen. Er ist also nicht die grosse, übergeordnete Instanz, in der die Gegensätze aufgehoben sind, nicht die Verkörperung einer höheren, beide Welten überbrückenden Ordnung, sondern nur der gestrenge Exponent der einen Seite. In seinem Gespräch mit Gertrude über Otto tritt dies klar hervor:

Gertrude Und dann, was tut er auch, er schwärmt, er liebt.
   In Frankreich achtet man den Jüngling wenig,
   Der nicht bei Weibern gilt, im Zwist der Minne
   Den Geist vorübend schärft für ernstem Zwist.
König So üb‘ er sich in Frankreich, wo mans duldet,
   Und abgeklärt sei er willkommen mir …
   Mein Land bewohnt ein einfach stilles Volk
   Zu jeder Art des Guten rasch und tüchtig,
   Doch Sitte hält ihr unverrückbar Mass
   Streng zwischen allzuwenig und zuviel,
   Und bannt den spröden, überscharfen Sinn.
   So ist, so muss es sein, so soll es bleiben! (283 ff.)

Der König spricht nicht vom Menschen schlechthin, sondern von Ungarn, von der Ordnung seiner Welt, und betont damit seinerseits die Kluft zwischen ihm und den Meranern. Die Eigenständigkeit von Gertrude und Otto aber wird rein äusserlich noch dadurch verstärkt, dass der Herzog ein eigenes Gefolge von Edelleuten hat, für welche Grillparzer in einer Lesart ausdrücklich «deutsche Tracht» verlangte (I. 18. 424).

Der erste Aufzug zeigt auch in diesem Stück den Doppelansatz der Exposition, wie er für Grillparzer typisch ist. Bancbans Wohnung und das königliche Schloss bilden die zwei abgegrenzten Räume, in denen die Handlung beginnt, und die durch ihre innere Gegensätzlichkeit schon deren Grundspannung fühlbar werden lassen. Denn das Schloss erscheint für den Zuschauer nicht als Sitz des Königs, sondern als das Dominium Ottos und der ihm «bis zur Verliebtheit und Eifersucht zugethanen Gertrude» (I. 18. 406). Im vierten Aufzug, wo die Rebellen vor den Mauern stehen, tritt dies klar hervor.

Was den Entstehungsprozess betrifft, so kann dieses Stück als weiteres Beispiel gelten für die Art, wie Grillparzer Motive und Möglichkeiten älterer Pläne wieder aufnimmt und in völlig anderem Rahmen neu verwendet. Für den «Treuen Diener» sind vor allem die Römer-Dramen bedeutsam, die ja schon mit dem vorhergehenden «Ottokar» in enger Beziehung stehen. Besonders der Lukrezia-Stoff, den sich Grillparzer bis in Einzelnes hinein zurechtgelegt hatte, übte entscheidenden Einfluss aus. Die Charakterskizze zu Sextus Tarquinius könnte ebensogut Otto von Meran betreffen (II. 7. 143), und der Selbstmord Ernys, der in den Quellen nicht vorhanden ist, wurde offensichtlich von dorther übernommen. In einer Lesart spottet Otto:

Vielleicht krönt neuen Feldzug besseres Glück.
Und du, Lukrezia, schlaf wohl ein Weilchen
Und träum indes von meinem deinem Sieg! (I. 18. 426)

Auch was sich Grillparzer über den Charakter von Brutus und Lukrezia notierte, entspricht durchaus den Eigenarten Bancbans und Ernys. Der Anfang des Stücks hingegen zeigt den Einfluss des Catilina-Planes. Jenes Werk hätte nämlich mit folgender Szene beginnen sollen: «Catilina und seine lüderlichen Genossen wecken den Cicero aus dem Schlafe und rufen ihn ans Fenster, damit er sie, zur Probe seiner Kunst, überrede, vor Tagesanbruch nach Hause und zu Bett zu gehen» (I. 8/9. 85).

Diese Abstammungstafel des Werkes zeigt, dass es für Grillparzer Stoffe und Handlungen gab, die ihn in höchstem Masse interessierten, deren Charaktere er sich festgelegt hatte, und die er doch nie zur Ausgestaltung brachte. Wenn ein dramatischer Vorwurf nicht ganz bestimmte Eigenheiten aufwies, verlor er auf die Dauer die Anziehungskraft für den Dichter und wirkte nur noch indirekt auf andere Arbeiten ein. Zu diesen Eigenheiten gehört in erster Linie der zweipolige Grundriss. Ausser «Spartakus» bot keiner der Römer-Pläne in dieser Hinsicht genügend Ansatzpunkte. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass gerade von «Spartakus» mehr als 800 Verse ausgeführt sind, während sich die übrigen Entwürfe durchaus auf Notizen beschränken.

Von allen Werken Grillparzers zum Beleg für unsere Thesen vielleicht am wenigsten geeignet, gerade daher aber als Prüfstein von besonderer Bedeutung ist «König Ottokars Glück und Ende». Grillparzers Studien dazu sind beinahe unübersehbar. Er verarbeitete eine gewaltige Menge von historischem Material, soviel, dass er einmal klagte: «Ich … fange an zu bemerken, dass das poetische Interesse für diesen Gegenstand allmählig bei mir zu einem historischen wird, und dass je klarer er mir als Begebenheit wird, um desto mehr er als Handlung zurücktritt» (I. 18. 154). Er hatte ein Geschehen von solchen Ausmassen zu bewältigen und in einen geschlossenen, dramatischen Ablauf zu bringen, dass vieles weggelassen oder überspielt werden musste, was sich bei einer einfacheren Handlung breiter und schärfer umrissen hätte entfalten können.

Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass der Doppelansatz der Exposition, wie er für Grillparzer typisch ist – die anschauliche Darstellung beider Welten in zwei aufeinander folgenden Szenenreihen – eine gewisse episch-umständliche und damit die Präzipitation hemmende Wirkung hat. Gerade solche verzögernde Elemente kann sich der Dichter aber am Anfang eines so riesigen Unternehmens wie des «Ottokar» nicht leisten. Anderseits ist der Stoff grundsätzlich auf die nun bekannte Weise organisiert: Ottokar und Kaiser Rudolf bilden die zwei wesenhaft verschiedenen Bereichen verpflichteten Protagonisten, welche unbedingt zusammen mit ihrer Umwelt exponiert werden müssen. Wie ist diese Schwierigkeit zu lösen?

Es gelingt Grillparzer tatsächlich, nicht nur einen kompromisslosen Weg zu finden, sondern einen so machtvoll bewegten dramatischen Auftakt zu schaffen, dass er noch heute als eine der grossartigsten Expositionen der Weltliteratur betrachtet werden darf. Dies erreicht er dadurch, dass er sich anfangs ganz auf die Ottokar-Welt beschränkt, welche er durchaus geradlinig einführen kann. Erst im Lauf des späteren Geschehens steigt dann mit rasch wachsender Gewalt der Gegenbereich auf und enthüllt die bis dahin noch verdeckte fundamentale Polarität.
Dieser Vorgang zeigt sich in eindrücklicher Weise an der Funktion, welche dem königlichen Schloss zu Prag auf den verschiedenen Stufen der Handlung zukommt. In den ersten zwei Akten bildet es den selbstverständlichen Schauplatz des reichen und kraftvollen Geschehens, der als solcher kaum bewusst ist und in keiner Weise als begrenzt oder auch nur von besonderer Eigenart empfunden wird. Das ändert sich aber plötzlich in einer Szene am Schluss des zweiten Aufzugs. Die Schilderung der Kaiserwahl durch den Burggrafen von Nürnberg wird unversehens gestört:

Heinrich von Lichtenstein (hinter der Szene)
   Verräterei!
Ottokar Wer ruft?
Gemurmel (unter den Anwesenden) Der Lichtenstein?
H. v. L. (tritt auf)
   Wer Oesterreicher ist, der sei gewarnt!
   Am Ausgang stehn des Schlosses Häscherrotten,
   Die fangen jeden, der nicht böhmisch ist.
Füllenstein (kommt hinter ihm mit gezogenem Schwert)
   Gebt euch gefangen!
Ottokar (vortretend) Eure Wehre, Heinrich!
   Ihr, Ulrich Lichtenstein, Graf Bernhard Pfannberg.
   Chol Seldenhoven, Wulfing Stubenberg,
   Ihr gebt die Schwerter und euch selbst in Haft!
H. v. L. Was taten wir?
Ottokar Damit ihr, Freunde, nichts tut,
   Send ich euch in die Haft. Damit ihr nicht
   Euch flüchtet zu der neuen Majestät … (1263 ff.)

Mit dieser Szene rückt das Prager Schloss schlagartig als ein geschlossenes Ganzes ins Bewusstsein, als Verkörperung von Ottokars Herrschertum, als Bastion seiner Grösse, der nun eine andere Macht feindlich gegenübersteht. Und jetzt endlich kann jene widerständige Welt auch exponiert werden. Es geschieht im dritten Akt, wo das Lager der Kaiserlichen auf der Donauinsel gezeigt wird. Eine Folge von kurzen Szenen stellt den Kaiser und seine Umgebung vor und charakterisiert sie mit einer gewissen Behaglichkeit, bevor Ottokars Erscheinen die Handlung wieder in volle Bewegung setzt. Katharina Fröhlich tritt als Wienerkind auf, einige Schweizersoldaten zeigen ihre angeborene ökonomische Besorgtheit, und Horneck, der Chronist, stimmt das grosse Preislied auf Oesterreich an. Das alles aber ist nur der reichgegliederte Hintergrund, vor dem der Kaiser steht, Ottokars grosser Gegenspieler, der nun mit seiner ganzen Macht den Schauplatz betritt. Das freundlich-zutrauliche Licht, das auf diesen Szenen liegt und auf das man so gerne hinweist, wenn man Grillparzer biedermeierliche Stubenwärme vorwirft, trägt seinen tieferen Sinn durchaus nicht nur in sich selbst – als Repräsentation etwa der Verbindung von Demut und Grösse im idealen Herrscher –, sondern es ist sorgfältig auf den dramatischen Gegensatz hin berechnet. Hier wird der Kontrapunkt gesetzt zuden kriegerisch-grossartigen Sequenzen im Schloss von Prag. Und wiederum erscheint diese Gegensätzlichkeit in jener Weise sinnlich verdichtet auf der Bühne, wie wir es nun schon häufig angetroffen haben. So wie zu Ottokar die befestigte Burg, gehört zum Kaiser das Zelt. Auch hier ist es nicht in erster Linie eine immanente Symbolik der beiden Dinge, die hervorgehoben werden soll, sondern die reine Polarität. Die Bühnenangaben rücken die Bedeutung des Zeltes ins volle Licht: «Insel Kaumberg in der Donau. Lager der Kaiserlichen. Im Hintergrunde, auf einigen Stufen erhöht, ein kostbares Zelt, mit dem Reichsadler geschmückt» (vor 1605). Davor spielt sich zuerst eine kurze Volksszene ab, wobei das Zelt als prächtige Dekoration wirkt, die man indessen weiter nicht beachtet. Dann geschieht folgendes:

«Das Zelt öffnet sich. Kaiser Rudolf sitzt im ledernen Unterkleide an einem Feldtische. Er hat einen Helm vor sich, an dem er mit einem Hammer die Beulen ausklopft» (vor 1612). Wenig später tritt er die Stufen herab und unter das Volk.

Diese ganze Szene, welche einerseits die dramaturgisch geschickte Vorbereitung zum Auftritt einer Hauptfigur darstellt, rückt zugleich das Zelt als die in bedeutungsvoller Weise zu Rudolf gehörende Behausung ins Bewusstsein. Das bestätigt sich kurz darauf in der Szene, da Ottokar im Zelt die Lehen entgegennimmt und Zawisch, um den Vorgang sichtbar zu machen, die Schnüre durchhaut. Indem der Böhmenkönig nämlich diesen Ort betritt, welcher gleichsam die cella sacra der ihm feindlichen Welt darstellt, demonstriert er in unmittelbar anschaulicher Weise den Bruch mit seinem bisherigen Dasein, die Untreue sich selbst und seinem Lebensgesetz gegenüber. Er verrät die Ordnung, der er verpflichtet ist, und tut damit den entscheidenden Schritt zu seinem Untergang.

Die Konsequenz tritt denn auch mit unerbittlicher Folgerichtigkeit ein: Ottokar vermag sein eigenes Schloss nicht mehr zu betreten; er kann im vollen Wortsinn «nicht mehr zurück». Stumm, «in einen dunkeln Mantel eingehüllt, ein schwarzes Barett mit schwarzen Federn tief in die Augen gedrückt», setzt er sich auf die Stufen vor der Prager Burg:

Ich sollte dich betreten, Schloss der Väter?
Die Schwelle dir entweihn mit meinem Fuss?
Als ich im Sieg, im jubelnden Triumph
Zu dir heranzog durch die lauten Gassen,
Erstritt‘ne Fahnen dir entgegenhielt;
Da machtest du mir deine Pforten auf
Und meine Väter sahn von deinen Zinnen.
Für Helden ward gewölbt dein hoher Bau,
Und kein Entehrter hat ihn noch betreten! (2029 ff.)

Im Schloss aber wohnt Kunigunde von Massovien, seine junge Frau, die jener Welt noch völlig angehört, aus der sich Ottokar zu seinem Unheil entfernt hat. Für sie sind die Vorkommnisse auf der Insel Kaumberg blosse Schmach; die Idee der überpersönlichen Ordnung, die dem Kaisertum zugrunde liegt, existiert für sie nicht. Sie lebt durchaus noch in der Zeit der grossen Einzelnen, zu denen der junge Ottokar gehörte, und deren Ende er als sein eigenes, tragisches Schicksal erlebt.

Wir stehn am Eingang einer neuen Zeit

sagt Kaiser Rudolf,

Der Jugendtraum der Erde ist geträumt
Und mit den Riesen, mit den Drachen ist
Der Helden, der Gewaltgen Zeit dahin. (1914 ff.)

Damit ist das Geschichtsbild angetönt, das dem Werk zugrunde liegt und das die dramaturgische Struktur, wie wir sie dargelegt haben, von der Idee her stützt und schärfer umreisst.

In diesem letzteren Zusammenhang wäre auch auf die «Hannibal»-Szene hinzuweisen, welche Grillparzer kurz vor dem «Ottokar», ohne je ein derartiges Schauspiel zu planen, als selbständigen Einakter niederschrieb. Das kleine Stück gehört zu Grillparzers gültigem Werk und wird völlig zu Unrecht unter die Pläne und Fragmente gereiht. Es geht darin, wie zwischen Rudolf und Ottokar, um die Gegensätzlichkeit zweier staatlicher Ordnungen, die am unterschiedlichen Verhältnis des Einzelnen zum Allgemeinen sichtbar wird.

Scipio Sprichst du im Ernst?
Hannibal Mit Römern scherzt ich nie!
Scipio Spricht so Karthago?
Hannibal So spricht Hannibal
   Hispanien muss bleiben, wem es ist.
Scipio Denkt auch Karthago so –
Hannibal (auf die Brust schlagend) Hier ist Karthago.
Scipio (auf seine Brust zeigend)
   Hier ist nicht Rom, sonst gönnte Scipio wohl
   Dem alten Helden, was ihm Rom verweigert …
   Wenn ich erläge wird ein anderer Römer
   Vollenden was der erstere begann.
   Wenn Hannibal erliegt, erliegt Karthago,
   Wenn Scipio fällt, doch triumphieret Rom!
   (96 ff. / 155 ff.)

Scipio nimmt also eine grundsätzlich gleiche Stellung ein wie Kaiser Rudolf. Wenn dieser sagt: «Ich bin der Kaiser nur, der niemals stirbt», so könnte sich jener in seiner Eigenschaft als römischer Konsul ebenso benennen. Und analog zu Ottokar steht Hannibal da als der grosse Einzelne. Bedeutsam aber ist an diesem opusculum, dass es zwar in vereinfachter Form die Thematik und das Spannungsschema des «Ottokar» aufweist, nicht aber das Motiv der Zeitenwende. Wie im «Goldenen Vliess», wo zwischen den beiden Welten in keiner Weise eine zeitliche Spannung im Sinne eines grossen Geschichtsprozesses herrscht, stehen sich auch hier die beiden Bereiche als dauernde Möglichkeiten menschlichen Daseins gegenüber. Auch wo bei Grillparzer grosse historische Entwicklungsvorgänge eine Rolle spielen, wie im «Ottokar», in «Libussa» oder im «Bruderzwist», dienen sie doch nur zur Verschärfung des aktuellen räumlichen Gegenübers.

Die dramaturgische Struktur des «Ottokar» weist nun noch ein Element auf, das bisher übergangen wurde: die Rosenberge mit ihrem Exponenten Zawisch. Es ist bezeichnend, dass bei der Klarlegung der fundamentalen Spannungsfelder des Werks die Rede nie auf diese Gruppe von Figuren kam. Denn sie gehören letztlich zu keiner der zwei beschriebenen Welten. Das lässt sich an Zawisch, zu dem die andern Rosenberge nur den ergänzenden Hintergrund bilden, überzeugend nachweisen. Zawisch ist ein Abenteurer in jenem Sinne, dass er in völliger Bindungslosigkeit lebt, ohne innere Beziehung zum Bannkreis Ottokars oder des Kaisers. Seine erste Aeusserung auf der Bühne, die sich auch später häufig wiederholt, ist schallendes Gelächter, Ausdruck der totalen Freiheit, der Ueberlegenheit dessen, welcher unter keinem verpflichtenden Gesetz steht. Er kann deshalb zum kampfbereiten Merenberg sagen:

Und ihr, Herr Weidmann!
Hebt eure Feder und seht nicht so kraus;
Ich bin kein Wild für euch! (96 ff.)

Gleicherweise ist er auch für Ottokar ungreifbar:

Ottokar Zawisch!
Zawisch (zurückkommend) Was wollt ihr, Herr?
Ottokar Dein Schwert!
Zawisch (indem er es gibt)
   Hier ist es.
Ottokar (zum Stoss ausholend) Verräter!
Königin (ruft inner dem Schlosstore) Rosenberg!
Ottokar Hier nimm dein Schwert und geh!
Zawisch Ei, schönen Dank! Hier ist nicht gut zu weilen. (2198 ff.)

Und selbst der Kaiser sagt zu ihm im fünften Akt:

Dankt Gott, Herr, dass ihr nicht mein Untertan,
Ich wollt euch das Kapitel sonst erklären! (2774 f.)

Diese Ueberlegenheit der Rosenberge wird denn auch von Zawisch wohl begründet.

Doch wir, die aus der Weltstadt Roma stammen,
Von den Patriziern, die den Erdkreis beugten,
Und, als Ursini, noch dem Throne stehn zunächst,
Auf dem Sankt Peters Macht ob Herrschern herrschet;
Wir mögen wohl nach Fürstenkronen trachten,
Und eine Rosenberg mag kühn und frei
Dem Besten sich vermählen dieser Erde.
Auch – ha, ha, ha, ha, ha! (149 ff.)

Zawisch ist also im eigentlichen Wortsinn von Haus aus bindungslos; ihm droht kein Weltverlust, wie den übrigen Tätern bei Grillparzer. Dies aber gibt ihm gewisse aussermenschliche Züge, wie sie sonst nur noch Zanga in «Der Traum ein Leben» aufweist. Die Rachsucht gegen Ottokar wirkt als blosser Vorwand zum gemeinen Spiel der Vernichtung, das als solches Selbstzweck ist, genau so wie die Verführung Kunigundes. Zawisch ist der Lügner schlechthin, ein maskierter Teufel. «Ich glaub, ihr seid nicht wahrhaft, Rosenberg!» sagt der Kanzler zu ihm (1536), und Margarete nennt die Rosenberge die «bösen Engel» des Königs. Grillparzer hat im Plan zu «Marius und Sylla», welcher eindeutig in die Ahnenreihe des «Ottokar» gehört, den typologischen Unterschied zwischen Zawisch und Ottokar scharf herausgearbeitet:

«Wenn Marius nach der höchsten Gewalt als einem Ziele strebt und im unbestrittenen Besitz derselben wohl auch einen gewissen Grad von Glück gefunden hätte …, so hat hingegen Sylla gar kein Ziel, oder vielmehr bloss momentane. Bei seinem Mangel an allem Gemüt gibt es für ihn kein letztes Wünschenswertes, und nur im Streben selbst, in dem steten Bewusstwerden und Ausüben seiner Kraft liegt für ihn ein scheinbares, aber sogleich nach dem Vollbringen wieder entschwindendes Glück. Selbst die Herrschaft reizt ihn nur, solange man sie ihm streitig macht, und er verachtet die Menschen viel zu sehr, als dass der höchste Platz unter ihnen auch nur seiner Eitelkeit geschmeichelt hätte. Sein ganzes Leben ist nur ein immerwährendes fruchtloses Ausfüllen der Leere in jenem Teile der Brust, wo andere Menschen des Herz tragen; alle Taten entspringen nur aus dieser Quelle, und sobald er aus Mangel an Feinden die Waffen niederlegen muss, … muss die dissoluteste Liederlichkeit an ihrer Statt die Stelle des Beschwichtigens einnehmen.

Marius in seiner wildesten Epoche erkennt noch immer ein Höheres, ein Oberes an, wenn auch nicht durch Achtung, doch durch Furcht; Syllas Gleichgültigkeit gegen gut und schlimm ist das Entsetzlichste, was die Weltgeschichte in ihren Charakteren zeigt» (I. 8. 29).

Eine Gestalt wie dieser Sylla aber ist für Grillparzer als Hauptfigur unmöglich, denn sie bietet, da ihr jegliche höhere Bindung fehlt, keinen Ansatzpunkt zur Tragik. In der dramatischen Funktion des Zawisch jedoch, des reinen Intriganten, der das Geschehen vorantreibt, selber aber ausserhalb der spezifischen, die tragische Handlung begründenden Spannungsfelder steht, kann sie mit höchster Bühnenwirksamkeit eingesetzt werden.

Es ist nun bezeichnend, dass die Rosenberg vor allem in der ersten Hälfte des «Ottokar» eine entscheidende Rolle spielen. Sobald mit der Exposition Rudolfs die Grundtension des Ganzen wirksam geworden ist, treten sie immer mehr zurück, so dass Zawisch, der anfänglich so farbenkräftige Akzente in das Geschehen setzte, zuletzt als unbedeutende Nebenfigur erscheint, welche im Zuschauer das Gefühl erweckt, sie sei vom Dichter vergessen worden. Weil er keinen festen Platz im polaren Gefüge hat, steht er nach der Katastrophe teilnahmslos da, gleichsam ausgespart aus der gereinigten Atmosphäre. Er war, dramaturgisch gesehen, eine Hilfskonstruktion des Dichters, welche ihm die gewaltige, gradlinige Exposition ermöglichte, – welche er aber am Ende mit einer unbefriedigenden Auflösung bezahlen muss.

Wenn im «Ottokar» der mächtige Auftakt zum habsburgischen Kaisertum dargestellt wurde, so zeigt «Ein Bruderzwist in Habsburg» dessen Untergang. Das erste Werk gipfelte in der Apotheose des Ewigen Kaisers, den das heilige Amt über alles Menschliche hinaushebt; das zweite lebt aus der erschütternden Einsicht in die Unvereinbarkeit von göttlich gestifteter Macht und menschlicher Hinfälligkeit. Im «Ottokar» muss die Ordnung geschaffen werden für eine grosse Zukunft; der «Bruderzwist» zeigt diese Ordnung als Vergehendes, zerbrechend im Angesicht einer neuen, wild-verworrenen Zeit.

Auch bei diesem Stück ist die Klarlegung der Exposition entscheidend für die Einsicht in die dramaturgische Struktur. Die Persönlichkeit Rudolfs II. beherrscht das ganze Geschehen dermassen, dass der Gedanke naheliegt, alles andere bilde nur den spannungsreichen und farbenkräftigen Hintergrund zur Gestalt des «Stillen Kaisers». Trotz dieser Dominanz einer Figur erweist sich aber das Gefüge des Werks durchaus als ein nach den Gesetzen von Grillparzers Dramaturgie geordnetes Ganzes. Im ersten und im zweiten Akt – Schloss zu Prag und kaiserliches Lager – findet sich wiederum der zwiefache Ansatz der Exposition. Die fundamentalen Spannungsbezüge werden aus einer Notiz in den Vorarbeiten ersichtlich: «Das Tragische wäre denn doch, dass er das Hereinbrechen der neuen Weltepoche bemerkt, die Andern aber nicht, und dass er fühlt, wie alles Handeln den Hereinbruch nur beschleunigt» (I. 21. 148). Dies heisst mit andern Worten: Rudolf ist der Vertreter der alten Weltepoche; ihm gegenüber steht die Gesamtheit der «Andern», welche, ohne es zu wissen, dem neuen Daseinsgesetz unterworfen sind, das sich äussert in gewalttätigem, maßstablosem Handeln. Diese Gegensätzlichkeit wird nun im Werk mit den gewohnten Mitteln herausgearbeitet. Das Prager Schloss repräsentiert den Bereich der alten Ordnung, in welcher Rudolf lebt, und die er verzweifelt aufrecht zu erhalten sucht. So legt es der erste Akt exponierend dar. Alle hier auftretenden Figuren, Mathias und Kiesel, Don Caesar, Ferdinand und Leopold, widerspiegeln in abgestufter Weise die Gestalt des Kaisers, dessen Wesen dadurch immer schärfer und differenzierter hervortritt. Die Gegenwelt aber bleibt noch unklar, eine unbestimmte Macht, mit welcher sich Rudolf konfrontiert fühlt:

Seht ihr, so halten wirs in unserm Schloss. –
So dringt die Zeit, die wildverworrne, neue,
Durch hundert Wachen bis zu uns heran,
Und zwingt zu schauen uns ihr greulich Antlitz. –
Die Zeit, die Zeit! ... (320 ff.)

Erst der zweite Aufzug bringt dann die eigentliche Exposition dieser andern Sphäre mit dem breit entworfenen Gemälde des Heerlagers, in dessen Mitte Mathias und Kardinal Klesel stehen. Zwar sind die beiden schon im ersten Aufzug einmal erschienen, aber jene kurze Szene konnte die grossen Gegenspieler des Kaisers nicht hinreichend exponieren. Denn bei Grillparzer erhält die dramatische Figur ihre notwendige «Gegenwart» erst zusammen mit ihrem spezifischen, meist symbolisch verdichteten Hintergrund. So wie daher zu Rudolf I. das kostbare Zelt und zu Ottokar die Burg, zu Primislaus die Hütte Lind zu Libussa das Schloss gehörte, so fügt sich nun zu Klesel und Mathias das grosse Zelt im ungarischen Kriegslager. Zusammen mit der bunten Umgebung stellt es den einprägsamen Gegenpol vor zum Hradschin.

Das wird von der Handlung durchaus bestätigt. Denn in diesem Zelt, förmlich hereingelockt von Klesel und Mathias, unterzeichnen die österreichischen Erzherzoge den‘ gesetzwidrigen Vertrag, welcher einen unheilvollen Frieden mit den Türken bringt, die Machtergreifung des Mathias ermöglicht und durch die damit bewirkte Verschärfung der Glaubensspannungen zuletzt zum Dreissigjährigen Krieg führt. – Grillparzer verwendet also im «Bruderzwist» wie im «Ottokar» das Gegensatzpaar Schloss-Zelt als rahmenähnlichen Hintergrund zu den zwei oppositionellen Welten. Dabei ist es höchst bezeichnend, dass jedes dieser Gebilde einmal den Bereich des Täters, des selbstgesetzlichen Individuums verkörpert, das andere Mal aber den Raum der heiligen Ordnung. So bestätigt sich in evidenter Weise unsere frühere Behauptung, dass es bei diesen szenischen Veranstaltungen weit mehr um die Versinnlichung der Polarität gehe als um eine bestimmte, mit dem Gegenstand gegebene Symbolik.

Zum Wesen der bipolaren Struktur von Grillparzers Dramen gehört nun, wie wir immer wieder betonten, die Tatsache, dass die beiden Welten verschiedenen, sich gegenseitig ausschliessenden Daseinsgesetzen unterworfen sind. Im Falle des «Bruderzwists» äussern sich diese am greifbarsten darin, dass die Zugehörigen der einen Sphäre ungehemmt und rücksichtslos handeln, wo die Vertreter der andern sich aus banger Einsicht in die unaufhaltsamen und unlenkbaren Konsequenzen jeder entschiedenen actio untätig verhalten. So notiert sich der Dichter als Grundformel des Werks in den Vorarbeiten: «Seine Unthätigkeit wäre das Glück, die Thätigkeit der übrigen zerstörte alles» (I. 21. 146).

Das Schema des tragischen Prozesses aber haben wir dahin definiert, dass sich der Held auf irgendeine Weise in der gegensätzlichen Welt verstricke und unheilvollen Verrat begehe an seiner eigenen Ordnung, wodurch er zuletzt in lähmende innere und äussere Heimatlosigkeit gestürzt werde. Auf den Fall Kaiser Rudolfs angewandt, würde das also heissen, dass dieser in bestimmter Art teilzunehmen hätte an der Welt der Täter. Und genau so geschieht es: «Soll (am Schluss des III. Akts) Rudolf seinen Grundsätzen untreu werden, indem er die Passauer herbeiruft und den Protestanten den Majestätsbrief ertheilt, und dadurch das erstemal seine unthätigkeit überwindend, sich selbst ins Verderben stürzen?» (I. 21. 144). So skizziert Grillparzer den Vorgang in seinen Entwürfen und führt ihn dann im Werk selbst ohne weitere Abänderung aus.

Damit dürfte es sich erwiesen haben, dass auch «Ein Bruderzwist in Habsburg», das Stück, dem man häufig genug mangelhafte dramaturgische Gestaltung vorgeworfen hat, durchaus nach den Gesetzmässigkeiten von Grillparzers Bühnenkunst aufgebaut ist. Vom Idealbild eines auf radikale Präzipitation hin entworfenen Dramas her mag man zwar noch etliches einzuwenden haben, das Entscheidende aber, die Funktionalität aller Teile und die folgerichtige Entwicklung aus einer gegebenen Spannungsstruktur, hält jeder Analyse stand.

In diesem Zusammenhang muss nun noch auf etwas eingegangen werden, das bei den Aufführungen dieses Werks immer wieder zur Sprache kommt und nicht selten den Unwillen der Regisseure sowie das bedenkliche Stirnrunzeln der Theaterkritiker hervorruft: die Don-Caesar-Handlung. Man hat schon gesagt, ihr einziger Grund sei der Wunsch des Dichters, doch noch eine Frau in das Männerstück zu bringen. Dem widerspricht jedoch die Tatsache, dass Lukrezia reichlich blass und wenig differenziert erscheint, was Grillparzer, wäre es ihm tatsächlich um diese Figur gegangen, ohne Schwierigkeit hätte vermeiden können. Ihn interessierte aber allein Don Caesar, und zwar seit jener frühen Notiz:

«Was ist das für ein natürlicher Sohn, den Rudolf, weil er ein Mädchen verführt im Bade erstiken liess?» (I. 21. 106). Grillparzer muss nämlich unbedingt vermeiden, dass das Handlungsgefüge statt als grosse Auseinandrsetzung zwischen zwei individuellen Schicksalsbereichen nur als der Machtkampf zweier ehrgeiziger Brüder erscheint. Dazu aber bedarf es irgendwelcher Geschehnisstränge, welche mit der politischen Insubordination nicht unmittelbar zusammenhangen, jedoch aus der gleichen Welthaltung heraus entstanden sind. Und hier liegen nun Sinn und Notwendigkeit der Don-Caesar-Handlung.

In den Vorarbeiten heisst es: «Er sieht in Don Caesar das Bild seiner wildbewegten, das Höchste antastenden, frevelhaften Zeit. Diess ist das Band, das jene Episode in das Ganze verflicht» (I. 21. 109). Es handelt sich also dabei durchaus nicht bloss um eine wirkungsvolle Intarsie, sondern um einen funktionalen Teil des Ganzen, welcher mit der dramaturgisch notwendigen Gestaltung der zwei sich bestreitenden Welten zusammenhängt.

Hier darf man vielleicht noch auf die Art hinweisen, wie Grillparzer diese Sekundärhandlung in das Gesamtgeschehen verflicht. Es werden dabei nämlich Kompositionsprinzipien fühlbar, die sich nur schwer umschreiben lassen. Die Don-Caesar-Szenen durchziehen das Ganze als eine Kette von kurzen, heftigen Auftritten und bewirken so eine intensive Rhythmisierung alles übrigen, den Einsätzen einer Bläsergruppe in einem Orchesterstück vergleichbar. Der Dichter hat sich ihre Verteilung genau überlegt (damals war noch der Name «Don Julio» geplant): «Don Julio kann im I Akt vorkommen. Zum Schluss des II Aktes mag er Lukrezien rauben. Im III Akt kommt er nicht selbst vor; wohl aber Lukreziens Vater der über die Gewaltthat beim Kaiser klagt, worauf dieser Julios Verhaftung befiehlt. Im IV Akt wieder Julius selbst» (I. 21. 142).

Auch abgesehen von der Don-Caesar-Handlung ist das Werk ein vorzügliches Beispiel für Grillparzers Neigung zu rhythmischer Variierung der Szenenfolgen. Die bald beschwörenden, bald elegischen Reden des Kaisers werden immer wieder aufgefangen und ausgewogen durch handlungsdichte Auftritte, so dass sich zuletzt ein gemessener, kontrapunktisch gegliederter Strom ergibt, dessen ästhetische Eigenart nur noch mit musikalischen Begriffen erfasst werden könnte.

* * *

Der Grundriss von Grillparzers Dramen spiegelt die Erfahrung eines Zeitalters: die nihilistische Konsequenz des Historismus als einer allgemeinen Welthaltung. Die bedingungslose Autonomie alles Individuellen enthüllt sich in einer Bewegung jäher Ernüchterung als dessen totale Isolation im leeren Raum. Welt steht unverbunden neben Welt, Gott neben Gott und Mensch neben Mensch. Jeder Versuch einer Begegnung stösst auf abgebrochene Brücken. Die menschliche Freiheit, einst begeistertes Postulat einer ekstatischen Generation, erscheint auf einmal als Schicksal von immanenter Tragik.

Dieser Vorgang bestätigt sich beispielhaft am grossen deutschen Drama, welches von Schiller bis Hebbel in stets neuer Weise die Frage nach der Freiheit des Menschen stellt.

Schiller demonstriert je und je mit der Glaubenskraft seines futurischen Geistes die triumphale Ueberwindung des Gesetzes als der Summe irdisch-stoffartiger Bindungen: die Ueberwindung durch den Revolutionär, der in der Vernichtung aller bestehenden Ordnung die Schrankenlosigkeit im reinen Chaos findet; die Ueberwindung durch den Intriganten, der die Maschinerie dieser Welt so sehr beherrscht, dass alle Bande ihre Geltung verlieren; die Ueberwindung endlich durch den Idealisten, der sich in gewaltigem geistigem Aufschwung des Ewigen versichert und so auch in Ketten zur Freiheit gelangt.

Das Werk Kleists aber lebt bereits aus der Erfahrung des Umschlags. Für ihn hat die Freiheit im Sinne unbegrenzter Möglichkeiten der Liebe oder des Gefühls keine gegebene Uebermacht mehr über das Gesetz der erstarrten, formulierten Ordnung. Der Konflikt führt den Helden notwendigerweise zur Aporie, deren tödlicher Charakter nur durch den blossen Zufall aufgehoben werden kann.

Hebbel wiederum zeigt die Freiheit als den liquiden, proteisch ungebundenen Kern der Welt, in den alles Verfestigte, sei es dies als Individuum oder als Stufe im welthistorischen Prozess, sich selbst zerstörend eingehen muss.

Die Menschen Grillparzers endlich sind mit der sie umgebenden Welt unlösbar verhaftet, und die in traumhaft angemasster Freiheit begangene Tat der Alliierung an einen fremden Schicksalsbereich erweist sich als Hybris, welche die gänzliche Heimatlosigkeit, die dumpfe Lethargie des Verstossenen zur Folge hat.

Alle vier Dramatiker fragen nach der Autonomie des Menschen. Dabei ist es von zweitrangiger Bedeutung, wie weit ihnen diese Problematik in formulierbarer Schärfe bewusst war. Bei Schiller steht die Freiheit auch im Mittelpunkt der philosophischen Schriften; Hebbel hat die Grundvorgänge seiner Dramen bis ins Einzelne in nüchterne Formeln gebracht, doch schon bei Kleist ist die Interpretation zu einem grossen Teil auf indirektes Vorgehen, auf das sorgfältige Sichten und Deuten der Symbole angewiesen. Grillparzer endlich hütet sich mit hartnäckiger Verschlossenheit vor abstrakten Formulierungen und verfolgt den «Begriff» im Kunstwerk mit dem ganzen Aufwand an Zorn und Unmut, dessen er fähig ist. Deshalb müssen wir uns den Schlüssel zu seinem Werk von Anfang an selber suchen. Wir tun dies auch weiterhin im Rahmen einer streng dramaturgischen Interpretation, welche sich vor jeder voreiligen Deutung der Phänomene hütet und, gemäss jenem Axiom Goethes, mehr an ihrer Konstanz als an ihrem Sinn interessiert ist.

(Aus: Peter von Matt, Der Grundriss von Grillparzers Bühnenkunst. Zürich: Atlantis 1965)