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Franz Grillparzer

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Ernst Fischer

Franz Grillparzer

Der berühmteste Dichter seines Zeitalters, Lord Byron, schrieb, nachdem er eine italienische Übersetzung der Tragödie „Sappho“ gelesen hatte, die Nachwelt werde lernen müssen, den schwierigen Namen Grillparzer auszusprechen. Österreich spricht ihn voll Bewunderung aus, die Welt aber kennt ihn zu wenig - nicht weil der Name so schwierig ist, sondern weil der Dichter es war, der ihn trug.

Sein Leben und Werk ist der Inbegriff altösterreichischer Problematik: die komplizierte Vereinigung von leidenschaftlicher Phantasie und menschenscheuem Raunzertum, von Traumgewalt und Wirklichkeitsangst, Opposition und Konservativismus, Humanität und Resignation. Er liebte Österreich und litt an ihm („Die christliche Türkei“ nannte er es gelegentlich). Er haßte das Regime Metternichs und fürchtete zugleich die demokratische Revolution. Er wollte die Einheit der buntscheckigen Monarchie bewahren und ahnte melancholisch ihren verfall. Er hätte am liebsten die Zeit zum Stillstand gebracht, denn jeder Schritt vorwärts war ein Schritt zum Zusammenbruch des Habsburgerstaats. Ein brüchiges Staatssystem hatte auf das Nervensystem eines großen Dichters übergegriffen. Die widerspruchsvolle geschichtliche Entwicklung Österreichs erschwert es anderen Völkern, einen Dichter zu verstehen, der die Verkörperung all dieser Widersprüche war.

Grillparzer war nicht nur von der Allerseelenstimmung der zwischen Gräbern, Blumen, Lorbeerkränzen dahindämmernden Habsburgermonarchie beeinflußt, sondern auch das Haus seiner Kindheit war von Dunkelheit durchflutet.

„Finster und trüb waren die riesigen Gemächer“, berichtet er in seiner Selbstbiographie. „Nur in den längsten Sommertagen fielen um die Mittagszeit einzelne Sonnenstrahlen in das Arbeitszimmer unseres Vaters, und wir Kinder standen und freuten uns an den einzelnen Lichtstreifen am Fußboden. Ja, auch die Einteilung der Wohnung hatte etwas Mirakuloses. Nach Art der uralten Häuser war es mit der größten Raumverschwendung gebaut … Nächst der Küche lag das sogenannte Holzgewölbe, so groß, daß allenfalls ein mäßiges Haus darin Platz gehabt hätte. Man konnte es nur mit Licht betreten, dessen Strahl übrigens bei weitem nicht die Wände erreichte … nichts hinderte uns, diese schauerlichen Räume als mit Räubern, Zigeunern oder wohl gar Geistern bevölkert zu denken. Das Schauerliche wurde übrigens durch eine wirkliche, lebende Bevölkerung vermehrt, durch Ratten nämlich, die in Unzahl sich da herumtrieben und von denen einzelne sogar den Weg in die Küche fanden.“

Es gehört zum Wesen dieses Hauses, dessen feudale Fassade über den Bauernmarkt hinwegblickte, daß es sich nach hinten zu gleichsam auflöste, sich mit verwinkelten Hinterhöfen und Hintertreppen in eine enge, schmutzige Sackgasse verlor, von deren Existenz die meisten Menschen in Wien keine Ahnung hatten.

In diesem „mirakulosen“ Hause mit seinen feierlichen Prunkräumen und schauerlichen Gewölben, mit seinen Ratten, Schatten und Gespenstern wohnte „standesgemäß“ und von Schulden aufgefressen der Advokat Wenzel Grillparzer. Da gab es eine Köchin und ein Küchenmädchen, einen Bedienten, der die gnädige Frau sonntags in die Kirche begleitete und würdevoll ihr Gebetbuch trug, einen Hofmeister und einen Musiklehrer, da gab es eine Sommerwohnung in Enzersdorf, Hausmusik und verschwenderische Hausbälle - und kein Geld für das Notwendige. Stipendien, Vorschüsse, demütigende Bittgesuche an die verschiedensten Institutionen, notdürftig verhüllte Bettelei und schließlich, am Totenbett des Vaters, die Armut ohne Maskerade. Neben dem ebenso energielosen wie leidenschaftlichen Vater huschte eine hochmusikalische, aber halbverrückte Mutter durch die Kindheit des Dichters, unruhig flackernd, kläglich erlöschend. Von den vier Söhnen ertränkt sich der eine in der Donau, zwei andere verzetteln ihre Begabung und gehn am Rande des Lumpenproletariats zugrunde; die Kinder, die der eine von ihnen hinterläßt, werden zu Taugenichtsen und Prostituierten. Und neben diesen und anderen brüchigen Gestalten finden wir in der Dunkelheit des alten Hauses am Bauernmarkt eine wunderliche Literatur, die ihren Zauber auf den Knaben ausübt: blutrünstige Ritter- und Gespenstergeschichten, die Heiligen- und Wundergeschichten des Paters Kochem, das Leben Alexanders von Quintus Curtius in einer uralten Übersetzung, das Textbuch der „Zauberflöte“ und das Märchendrama „Der Rabe“ von Gozzi; vor allem dieses erregende, überspitzte, von den Flammen einer kalten Phantasie durchloderte Märchendrama hat den jungen Grillparzer nachhaltig beeinflußt.

Das „mirakulose“ Haus am Bauernmarkt mit seinen nicht weniger mirakulosen Bewohnern, mit seiner feudalen Fassade und seinem verstaubten Gerümpel, mit seinen musikalischen und theatralischen Veranstaltungen und seiner heillosen Finanzwirtschaft war im Wien der Habsburger und Metternichs, in der schwarzgelben Dunkelheit einer weitläufigen und verfaulenden Monarchie nichts Einmaliges und Fremdartiges; es war eine Miniaturausgabe dieser Monarchie. Nichts wäre falscher, als in der von Krankheit und Halbheit gezeichneten Familie Grillparzers, in der zermürbenden und gefährlichen Atmosphäre, aus der er hervorging, in seinem eigenen verworrenen und abseitigen Leben einen „Sonderfall“ zu erblicken; dieses Leben voll Schwermut und Schwäche, voll Phantasie und Resignation, voll schöpferischer Begabung und verzehrender Energielosigkeit war ganz und gar bedingt durch das Wesen, durch die Geschichte, durch die Traditionen der Habsburgermonarchie.

Der widerspruchsvolle Habsburgerstaat

Der Habsburgerstaat war keineswegs nur Ergebnis der Fürstenwillkür. „Hausmachtpolitik“ haben alle Fürsten der Feudalzeit betrieben, sie war keine Spezialität der Habsburger. Das Aufkommen mächtiger Landesherren war für die Herausbildung moderner Staaten unentbehrlich, der Kampf um eine geregelte Erbfolge, um die Sicherung einer festen Zentralgewalt hat zumeist den Fortschritt gefördert. Zum Unterschied von den englischen und französischen Königen, die sich immer wieder auf die Städte stützten, um den Feudaladel zu bändigen, hat sich schon der Begründer der Habsburgermacht auf den Feudaladel gestützt, um seinen Gegenspieler Ottokar von Böhmen niederzuwerfen. Dieses Bündnis mit dem Feudaladel wurde zur habsburgischen Tradition, zum Teil wohl dadurch bedingt, daß die geographische Lage Österreichs die Entstehung von Städten nicht begünstigte. Der staatliche Zusammenschluß der Donauvölker, vor allem im Kampfe gegen die Türken, war eine geschichtliche Notwendigkeit; das Unheil waren die reaktionären Methoden, durch welche dieser Zusammenschluß herbeigeführt und aufeinander angewiesene Völker aneinander gekettet wurden. Das Gefühl des Aufeinander-Angewiesenseins war sogar 1848 noch so groß, daß der tschechische Historiker Palacky von dem „notwendigen Völkerverein“ sprach, dessen „Ader die Donau“ sei, daß Kossuth in seiner revolutionären Rede am 3. März 1848 erklärte, es gehe um die „Verbrüderung der verschiedenen Völker Österreichs“, um die Ersetzung des „schlechten Bindemittels der Bajonette und des Beamtendrucks durch den festen Kitt einer freien Verfassung“, daß der konstituierende Wiener Reichstag am 7. Oktober 1848 proklamiert: „Wir sollen einen politischen Staatsbau aufführen, der verschiedene Völker zu einem brüderlichen Völkerstaat vereinigt, dessen unerschütterliche Grundlage das gleiche Recht, dessen Lebensprinzip die gleiche Freiheit aller sein soll.“ Die Proklamation zu diesem Zeitpunkt wurde von der Wirklichkeit zur Phrase degradiert.

Nach den behutsamen Reformen der klugen Kaiserin Maria Theresia hatte ihr Sohn Joseph II. den Versuch unternommen, die Macht des Feudaladels und der Kirche zu brechen, ohne sich dabei auf die Kräfte des Volkes zu stützen. Das Konzept dieses heftigen und hochmütigen Monarchen war der Einheitsstaat mit einheitlicher deutscher Amtssprache. eine einheitliche, deutschsprachige, aufgeklärte Bürokratie sollte diesen Staat zusammenhalten, als Exekutive des Monarchen sein Gerüst und seine Rüstung sein. Die „Revolution von oben“, gegen die nicht nur Adel und Kirche, sondern auch die zu nationalem Selbstbewußtsein erwachenden Völker sich auflehnten, scheiterte. Schritt für Schritt mußte der einsame, in der Wahl seiner Mittel durchaus kluge Kaiser vor seinen hartnäckigen und gewandten Gegnern zurückweichen. Es entbehrte nicht geschichtlicher Tragik, daß an sein Totenbett, als er die „Revolution von oben“ zurücknahm, die Revolution von unten trat, daß manches, was der aufgeklärte Despot geahnt hatte, nun in Frankreich „für das Volk und durch das Volk“ zur Tat wurde. Der Traum eines „aufgeklärten Absolutismus“ war zusammengebrochen. Die Angst vor der Revolution, ja vor jeder Änderung, wurde zum Regierungsprinzip. Franz I., den Joseph verachtet hatte, übernahm die Methoden und den bürokratischen Machtapparat des Absolutismus, nicht um Reformen durchzuführen, sondern um jede Entwicklung zu unterbinden. Der „Josephinismus“ war in seiner Fortwirkung widerspruchsvoll: als Widerschein der Aufklärung in den Köpfen intelligenter Bürger und Bürokraten, und als System bürokratischer Unterdrückung und Bevormundung. Franz I. und seine Minister sahen im „Josephinismus“ den Bahnbrecher der verhaßten Menschenrechte, der Bauernbefreiung, der Sturzes von Adel und Monarchie. Sie begriffen, daß jede Entwicklung, jede Veränderung auf die bürgerliche Revolution hinzielte, und hielten es daher für das schlaueste, den Atem anzuhalten, den Zeiger von der Uhr der Geschichte zu entfernen und Österreich gegen das Ticke dieser Uhr schalldicht abzuschließen.

Dadurch wurde erreicht, daß das Feudalsystem in Österreich mit seinem absolutistisch-bürokratischen Überbau bei lebendigem Leib verfaulte. Die Verworrenheit, Unordnung und Unproduktivität, die dem Feudalismus zu eigen ist, war überdies von dem unentwirrbaren Netz einer umständlichen, pedantischen und anmaßenden Bürokratie überspannt. Diese Bürokratie hatte dafür zu sorgen, daß nichts geschehe. Ein riesiger Apparat war unablässig in Bewegung, um keinerlei Bewegung zuzulassen, unablässig in Tätigkeit, um jegliche Tätigkeit lahmzulegen. Das Wohl des Staates schien davon abzuhängen, daß über jeden Schritt jedes Bürgers ein Akt angelegt, zugleich aber davon, daß niemals ein Akt erledigt wurde, denn jede Erledigung irgendeines Anliegens, einer Beschwerde, eines Streitfalls konnte irgendwelche unvorhergesehene Wirkungen haben. Diese zum Staatsgrundgesetz erhobene Untätigkeit, diese Passivität als Inbegriff der Bürgertugend, dieses unruhige Auf-der-Stelle-Treten, die inhaltslose „G’schaftelhuberei“ bemächtigte sich der ganzen Gesellschaft und jedes einzelnen. Die Trägheit, Indolenz, „Wurstigkeit“ nahm überhand. Grillparzers Hauslehrer opferte lieber seine Existenz als seinen Schlaf. Und Grillparzer selbst schrak vor jeder Tat zurück, fürchtete sich vor endgültigen Entschlüssen, war stets bemüht, keinen Akt seines Lebens zu erledigen. Er war der repräsentative Österreicher seines Zeitalters.

Der romantische Protest

Franz Grillparzer wurde am 15. Jänner 1791 als Sohn des Advokaten Wenzel Grillparzer geboren. Er starb am 21. Jänner 1872 als Hofrat in Pension und Mitglied des österreichischen Herrenhauses. Die meisten wußten damals von ihm nicht mehr, als daß er der Dichter der „Ahnfrau“ war. Dieses genialische Schauerstück des Fünfundzwanzigjährigen hatte großen Erfolg; das ungewöhnliche Lebenswerk, das diesem Auftakt folgte, war so wenig erfolgreich wie das eines anderen Einzelgängers: Heinrich von Kleist. Der weiche, jeder Entscheidung ausweichende Österreicher war dem fieberhaft überspannten, dem rebellierenden preußischen Junger sehr unähnlich; gemeinsam aber war den beiden abseitigen Dichtern die eigenwillige Haltung, die sie zwischen den Zeitaltern einnahmen.

Das Zeitalter der Aristokratie, des Absolutismus, der Aufklärung, des von Optimismus erfüllten aufsteigenden Bürgertums ging zu Ende; das Zeitalter des siegreichen Bürgertums, des Kapitalismus und Individualismus, hatte begonnen. Im wesentlichen war die Französische Revolution der Wendepunkt. Es galt nun, die Ideen der Aufklärung, der revolutionären Bewegung zu erfüllen; doch „Erfüllungen sind immer Enttäuschungen“, schrieb der große österreichische Schriftsteller Robert Musil. Das Zeitalter der vorwärtsstürmenden Technik und Industrie, des unaufhaltsam um sich greifenden Kapitals, der Bürgerherrschaft in mannigfaltigen Formen war zugleich, wie Honoré de Balzac formulierte, ein Zeitalter „verlorener Illusionen“. Die tiefen gesellschaftlichen Widersprüche fanden ihren Ausdruck in der Romantik, die zur philosophischen, literarischen und künstlerischen Hauptströmung wurde. Die wichtigsten Merkmale der in sich selber widerspruchsvollen Romantik waren die tiefe Abneigung gegen den Kapitalismus, das Gefühl, in einer zur Fremde gewordenen, durch fortschreitende Arbeitsteilung zerstückelten Welt zu leben, die Sehnsucht nach einer verlorenen, in die Vergangenheit hineingeträumten oder von ferner Zukunft erhofften Einheit des Menschen mit sich selbst und mit der Gesellschaft, die Selbstbespiegelung der Persönlichkeit mit all ihren Leidenschaften, Träumen und Komplikationen, das Bekenntnis zum Künstler gegen den Bürger, zum „Erwählten“ und „Begnadeten“ im Konflikt mit einer prosaischen Außenwelt.

Grillparzer und Kleist gehörten nicht der von den Brüdern Schlegel, von Tieck, Novalis, Schleiermacher gegründeten „Romantischen Schule“ an; beide waren jedoch dem Wesen und der Haltung nach Romantiker. Ihr romantischer Protest gegen die Bürgerwelt, ihr Verlangen nach Einheit und Fülle des Lebens, nach Übereinstimmung von Persönlichkeit und Gesellschaft verband sich mit neuen Methoden realistischer Menschendarstellung. Der klassizistische Idealismus (den in Deutschland vor allem Friedrich Schiller verkörperte), hatte die Charaktere zu sehr vereinfacht, stilisiert, pathetisch überhöht; behutsamer als der ungestüme, ungeduldige Kleist, aber mit verwandter Absicht, gestaltete Grillparzer Menschen „mit ihrem Widerspruch“, problematische Wesen mit einer Vielfalt von Trieben und Träumen, von Farben und Nuancen. Es waren nicht mehr Charaktermasken, sondern Charaktere mit positiven und negativen Zügen, die vor das Publikum tragen; und eben dies war unbequem und befremdend. Außerdem hielten sowohl Kleist wie Grillparzer daran fest, daß ein Theaterstück nicht den Alltag widerzuspiegeln habe, sondern daß es Dichtung sein müsse; und diese Vereinigung von Psychologie, die ins Unbewußte und Fragwürdige des Menschen hinabtauchte, mit dem von der klassischen Literatur übernommenen Prinzip der Größe, der Umwandlung von Wirklichkeit in Dichtung, trug dazu bei, die Dichter zwischen den Zeitaltern mit Schatten der Einsamkeit zu verdunkeln.

Der romantische Protest gegen die kapitalistische Entwicklung war für Grillparzer zugleich Abwehr gegen die Bedrohung des österreichischen Staatsgefüges durch eben diese Entwicklung. Grillparzer war keineswegs der „Reaktionär“, als den man ihn mitunter angeklagt hat.

Er sah die Fäulnis des Systems, er machte sich über Franz I., über Metternich und all ihre Kreaturen nicht die geringsten Illusionen, aber er suchte vergeblich nach ihren Gegenspielern, die fähig wären, Österreich zu erneuern; er fürchtete, daß sie nur imstande seien, Österreich zu zertrümmern. _Er meinte, daß es zu spät oder zu früh sei, die große Umwälzung herbeizuführen, die Österreich zu retten vermochte; und in dieser seiner Anschauung spiegelten sich die tiefe Problematik eines Dichters, der in der Tat zu spät gekommen war oder zu früh, eines Humanisten, der einsam zwischen den Zeiten stand und dem eine fremde, feindliche Wirklichkeit entgegenstarrte. „O Mensch, der nur zwei Fremden und keine Heimat hat!“ rief er in klagendem Selbstgespräch; unerfüllbare Sehnsucht wurde in knappen Versen ausgesprochen:

Nur weiter geht ihr tolles Treiben,
Von vorwärts! vorwärts! erschallt das Land:
Ich möchte, wär’s möglich, stehenbleiben,
Wo Schiller und Goethe stand.

Dieser Wunsch, „stehenzubleiben, wo Schiller und Goethe stand“, entsprang dem tiefen Grauen vor der Zersetzung einer Gesellschaft, der scheinbar die großen Positiven Gegenkräfte mangelten. In den humanistischen Dichtern Deutschlands, in Lessing und Herder, in Schiller und Goethe, verkörperte sich der ungestüme Aufschwung des Bürgertums. Es war die Morgenröte eines neuen Zeitalters, die alles mit ihrem kräftigen und lebhaften Licht übergoß. Das Leben schien zu einer neuen Einheit, Fülle und Harmonie zu erwachen. Es folgte in Frankreich der Sonnenaufgang der Revolution - und in Mitteleuropa die reaktionäre Verdunkelung. In Frankreich war die verfaulte Gesellschaft in einem ungeheuren, reinigenden Gewitter zusammengebrochen, in Deutschland und mehr noch in Österreich siechte sie dahin, erstickte sie gräßlich langsam in ihrer eigenen Jämmerlichkeit. Der Kapitalismus trat seine Herrschaft nicht mit Donner und Blitz an, er kam durch die Hintertür hereingeschlichen, seine Wegbereiter waren nicht revolutionäre Heroen, sondern mittelmäßige, unansehnliche Gestalten. Was ein feinfühliger und zugleich unbarmherziger Beobachter wie Grillparzer vor allem wahrnahm, war der Prozeß der Zersetzung, und er weigerte sich, in dieser Zersetzung einen Fortschritt zu erblicken. Ausdrücklich bejahte er die amerikanischen Freiheitskriege und die große Französische Revolution. „Die ersten Revolutionen des neueren Europas“, schrieb er in seinen Erinnerungen, „die amerikanische und die französische der neunziger Jahre, gingen mehr oder weniger von einer Notwendigkeit, von einer Gefährdung der materiellen Interessen, von einer Bedrohung der Grundlagen alles Bestehenden aus.“ An den späteren revolutionären Bewegungen leugnete Grillparzer die Notwendigkeit; unfähig, den Klassencharakter der bürgerlich-demokratischen Revolution zu verstehn, sah er in ihr das Geschichtsdrama, das er nach den sichtbaren Kräften und Gegenkräften - und nach der Qualität der Darsteller bewertete. Die demokratischen Kräfte in Österreich waren nun keineswegs hervorragend: eine engherzige, von dem nachrückenden Proletariat erschreckte Bourgeoisie, mehr oder minder deklassierte Kleinbürger, mehr oder minder talentlose Literaten. In all dem bemerkte Grillparzer eine beklemmende Unzulänglichkeit, fühlte er die Halbheit, deren tiefste Ursachen er freilich nicht erkannte: daß das Bürgertum vor der plebejischen Revolution Angst hatte, weil es vor den Arbeitern Angst hatte, und aß es daher stets bereit war, Hals über Kopf zur Reaktion überzugehn.

Die demokratische Revolution

Den elementaren Bedürfnissen der Bauern stand der Großstädter Grillparzer fremd gegenüber. Die Arbeiter waren ihm unverständlich, erschienen ihm nur als eine Kraft der Zerstörung. Die draufgängerische Tapferkeit der Studenten erregte seine Bewunderung; unmöglich aber konnten ein paar tausend Studenten die Träger einer neuen Ordnung sein. Da er nirgends die Träger dieser neuen Ordnung erblickte, war Grillparzer nicht imstande, den bürgerlich-demokratischen Charakter der Revolution von 1848 zu begreifen. Der Beginn dieser Revolution dünkt ihn „so matt, so erbärmlich, daß ich mich im Namen meiner Landsleute schämte, daß, wenn sie schon krawallen wollten sie’s gar so unscheinbar anfingen“. Dann aber machte die Kühnheit der Studenten auf ihn einen großen Eindruck. „Die Unbekümmertheit, mit der die jungen Leute wie Opferlämmer sich hinstellten und von den aufgestellten Bewaffneten gar keine Notiz nahmen, hatte etwas Großartiges. Das sind heldenmütige Kinder, sagte ich zu mir selbst.“ Als jedoch später die Revolution in Wien sich in ihrer ganzen Größe aufrichtete, als Arbeiter und Studenten Wunder an Heldenmut vollbrachten, während das Bürgertum angstschlotternd der Konterrevolution Vorschub leistete, hatte Grillparzer seine Entscheidung schon getroffen: gegen die Revolution, für die Armee der Habsburger unter dem Kommando des Feldmarschalls Radetzky.

Im Bewußtsein Grillparzers war die Revolution des Jahres 1848 nicht eine Kraft, die eine neue Ordnung versprach, sondern nur ein weiteres Element der allgemeinen Zersetzung, die ihm den Angstruf abnötigt: „Ich möchte, wär’s möglich, stehenbleiben!“ Stehenbleibend, stand er plötzlich im Lager der Reaktion, die sein Leben zerstört hatte. Wir hören sein Geständnis: „Der Despotismus hat mein Leben, wenigstens mein literarisches, zerstört, ich werde daher wohl Sinn für die Freiheit haben. Aber nebstdem, daß die Bewegung des Jahres achtundvierzig mein Vaterland zu zerstören drohte, das ich bis zum Kindischen liebte, schien mir auch überhaupt kein Zeitpunkt für die Freiheit ungünstiger als der damalige.“ Grillparzer traute der deutschen, geschweige denn der österreichischen Bourgeoisie die Fähigkeit nicht zu, etwas wirklich Neues und Großes hervorzubringen; aber ausschlaggebend für seine Stellungnahme war nicht so sehr diese Einschätzung seiner bürgerlichen Zeitgenossen wie seine tiefe Sorge um den Bestand Österreichs. Es war nicht nur die gesellschaftliche Zersetzung im allgemeinen, es war die Zersetzung des österreichischen Nationalitätenstaates im besonderen, die Grillparzer bis an die Wurzeln seines Wesens beunruhigte.

Grillparzer, der sein Vaterland „bis zum Kindischen“ liebe, war mit allen Fasern seines Daseins Österreicher. In ein Stammbuch schrieb er:

Hast du vom Kahlenberg das Land dir rings besehn,
So wirst du, was ich schrieb und was ich bin, verstehn.

Und es war keineswegs nur die österreichische Landschaft, sondern es war das gesamte staatliche, geschichtliche, kulturelle Gebilde Östereich mit all seinen Widersprüchen und Wunderlichkeiten, zu dem er sich leidenschaftlich bekannte. Er sei kein Deutscher, sagte er einmal, sondern ein Österreicher, genauer ein Niederösterreicher und alles in allem ein Wiener. Das war weit mehr als der Ausdruck eines beschränkten Lokalpatriotismus, das war das Ergebnis eines unablässigen Ringens mit der österreichischen Problematik. Um Grillparzer gerecht zu werden, müssen wir uns vor Augen führen, daß er die Revolution des Jahres 1848 vor allem deshalb ablehnte, weil sie in Österreich unvermeidlich den nationalen Kampf entfesselte, weil sie einer Sprengung des österreichischen Nationalitätenstaates entgegentrieb. In seinen „Erinnerungen“ hat Grillparzer sich eine Reihe von Fragen vorgelegt und beantwortet:

„Warst du mit dem vormärzlichen Zustande zufrieden? Hast du keine Änderung gewünscht? Glaubst du, daß der Mensch nicht Hand anlegen soll, um unleidliche, nichtswürdige Verhältnisse zu verbessern? Alle diese Fragen mit ja beantwortet, muß doch bei allem Praktischen auf die Umstände Rücksicht genommen werden. Wäre der östreichische Staat ein kompakter, von ein und demselben Volksstamme bewohnter, oder wären diese Volksstämme von dem Wunsche des Zusammengehörens und Zusammenbleibens beherrscht; wäre die Richtung der Zeit eine solche gewesen, daß ein vernünftiges Einhalten nach Erreichung vernünftiger Zwecke vorauszusetzen gewesen, ich hätte die Hand freudig zu jedem Reformversuch geboten, oder – um mir nicht zu viel Tatkraft anzudichten - wenigstens jeden solchen, wenn auch gewaltsamen Versuch mit meinen Wünschen und mit meinem moralischen Einfluß auf meine Landsleute unterstützt. So aber war - und gerade damals im höchsten grade – von alledem das Gegenteil.“

Und er fügte hinzu:

„Die lächerliche Nationalitätenfrage hatte allen Volksstämmen der östreichische Monarchie eine zentrifugale Bewegung eingedrückt.“

Das nationale Problem

Die Nationalitätenfrage war keineswegs so „lächerlich“. wie Grillparzer in seinem Groll behauptete, sie war die Grundfrage der bürgerlich-demokratischen Revolution in Österreich. Sollten sich im Prozeß dieser Revolution die deutschsprechenden Österreicher mit den Preußen, den Bayern, den Sachsen usw. zur deutschen Nation vereinigen - auch unter der Voraussetzung, daß die alten Verbindungen mit den slawischen Völkern gesprengt wurden und Wien aufhörte, das Zentrum eines großen Reiches zu sein? Sollten die Tschechen und andere slawische Völker gegen ihren Willen zu dem neuen Deutschland gehören? Sollte ein großer slawischer oder ein großer ungarischer Staat entstehn? Und waren all diese Fragen, die unmittelbar mit der komplizierten nationalen Gliederung der Monarchie zusammenhingen, in der Tat schon lösungsreif?

Österreich hat sich wirtschaftlich, politisch und kulturell anderes entwickelt als Deutschland. Obwohl die Habsburger jahrhundertelang die deutsche Kaiserkrone trugen, waren die österreichischen Länder nur locker mit dem Deutschen Reich verbunden. Nach dem Dreißgjährigen Krieg war diese Verbindung nahezu völlig unterbrochen und mehr und mehr trat die Rivalität zwischen Österreich und Preußen, ihr Kampf um die Vorherrschaft in Mitteleuropa in den Vordergrund. Der Überfall Preußens auf Österreich in der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Siebenjährige Krieg zwischen Friedrich II. und Maria Theresia hinterließen ihre Spuren im Bewußtsein des österreichischen Volkes. Andererseits aber blieb der wirtschaftliche und kulturelle Aufschwung in Westdeutschland, der sich am eindrucksvollsten in den Werken der deutschen Klassiker widerspiegelte, nicht ohne tiefe Rückwirkung auf die fortgeschrittensten Teile des österreichischen Bürgertums, der österreichischen Intelligenz. Es war eine dünne, aber lebhafte und progressive Schicht, die sich auf das Deutschland Lessings, Goethes und Schillers orientierte und vor allem nach dem Wiener Kongreß, in den Jahrzehnten der drückendsten Reaktion in Österreich, im Zusammenschluß mit Deutschland eine geschichtliche und nationale Notwendigkeit erblickte. Die demokratischen Kräfte in Österreich wünschten die chinesische Mauer zu durchbrechen, die das System Metternichs zwischen der Habsburgermonarchie und Deutschland errichtete, sie waren Anhänger einer großdeutschen demokratischen Revolution.

Man darf jedoch nicht übersehn, daß diese Kräfte in Österreich sehr isoliert und zum größten Teil alles andere als konsequent waren. Das österreichische Bürgertum und die aus seinem Schoß hervorgegangene Bürokratie waren nicht bereit, auf die Vormachtstellung gegenüber den slawischen Völkern der Monarchie zu verzichten und sich unter Preisgabe ihrer Privilegien einem gesamtdeutschen Reiche einzugliedern und unterzuordnen. Die österreichischen Bauern standen in ihrer großen Masse den großdeutschen Bestrebungen gleichgültig, ja mißtrauisch gegenüber. Die österreichischen Arbeiter, die heldenhaften Barrikadenkämpfer von 1848, waren nur schwer zu bewegen, die großdeutschen Losungen anzunehmen. Und auch die eigentlichen Repräsentanten des großdeutschen Gedankens schwankten in ihren Anschauungen. Der norddeutsche Dramatiker Friedrich Hebbel, der in Wien seine zweite Heimat gefunden hatte, kennzeichnete mit scharfen Worten diese Schwankungen. In seinem Tagebuch findet sich unter dem Datum des 18. April 1848 die Notiz:

„Die lieben Österreicher! Sie sinnen jetzt darüber nach, wie sie sich mit Deutschland vereinigen können, ohne sich mit Deutschland zu vereinigen! Das wird schwer auszuführen sein, ebenso schwer, als wenn zwei, die sich küssen wollten, sich dabei den Rücken zuzukehren wünschten!“

Nach der Niederlage der Revolution vollzog sich auch ein Umschwung in jener schmalen Schicht, die bisher am entschlossensten für Großdeutschland eingetreten war. Der entscheidende Wendepunkt war 1866 der militärische Sieg Preußens über Österreich. Damals schrieb einer der Wortführer der großdeutschen Bewegung, L. A. Frankl, an den ebenfalls großdeutschen Dichter Anastasius Grün:

„Immer und immer wieder drängt sich mir der Zweifel auf, ob denn auch die deutsche Bevölkerung Österreichs in Wahrheit sich eine Vereinigung mit Deutschland wünscht … In Wien vor allem, das doch eine von Deutschen zumeist bewohnte Stadt ist, scheint mir mit dem Deutschtum viel geflunkert worden zu sein …“

Frankl kam zu der Schlußfolgerung, „daß ich bei einem Plebiszit voraussetzen muß, daß die Deutschösterreicher sich nicht mit Deutschland vereinigen werden …“

Die größten Schwierigkeiten und Hemmungen hatten sich von Anfang an aus der nationalen Frage ergeben. Auch die slawischen Völker der Monarchie gerieten in die Strömung der bürgerlich-demokratischen Revolution und stellten ihre nationalen Forderungen. Die Ungarn jedoch, die am kühnsten die Fahne der Revolution erhoben, waren nicht bereit, diesen Forderungen auch nur im geringsten entgegenzukommen; die Kroaten, von den Ungarn zurückgestoßen, wurden den habsburgischen Intrigen zugänglich und ließen sich ins Lager der Konterrevolution ziehn. Ähnlich verhielt es sich mit den Tschechen, denen das deutsche und das österreichische Bürgertum verständnislos und anmaßend entgegentrat; sie fürchteten nicht mit Unrecht, durch einen großdeutschen Block erdrückt zu werden, und stellten sich nach einigen Schwankungen an die Seite der Habsburger, in denen sie das kleinere Übel erblickten. Die reaktionären Kräfte verstanden es, aus den nationalen Kämpfen ihren Vorteil zu ziehen, die verschiedenen Völker gegeneinanderzuhetzen und mit slawischer Unterstützung die Revolution niederzuwerfen. Grillparzer sah vor allem die plötzlich akut gewordene nationale Zerrissenheit und fürchtete nicht nur, Österreich können daran zugrunde gehn, sondern auch, der jäh emporlodernde Nationalismus werde einen neuen Zustand der Barbarei heraufbeschwören. In seiner Sorge um die Ideale des Humanismus hat er die Worte geprägt:

Der Weg der neuern Bildung geht
Von Humanität
Durch Nationalität
Zur Bestialität

Grillparzer hat die Unvermeidlichkeit, die historische Notwendigkeit des Erwachens der Nationen im Zeitalter des Kapitalismus nicht verstanden, aber ahnungsvoll hat er die künftige Entartung des Nationalimus, hat er den bestialischen Chauvinismus vorausgesehn. Er wollte auch in dieser Frage stehenbleiben, wo Schiller, aber vor allem, wo Goethe stand, und weigerte sich ingrimmig und hoffnungslos, den Kapitalismus mit all seinen Wesenszügen anzuerkennen. Man muß dabei berücksichtigen, daß in Deutschland die nationale Frage einen durchaus positiven Charakter trug, während in Österreich das Negative überwog; in Deutschland trat sie auf mit dem großen revolutionären Pathos der Einigung, in Österreich mußte sie als ein Element der Zersetzung erscheinen. Wir wissen, daß für Grillparzer eben die Zersetzung das hervorstechende Merkmal des Kapitalismus war, und so wertete er den Aufbruch des Nationalismus nur als eine Bestätigung seiner Anschauungen. Er kämpfte für eine Einheit des Menschen und der Gesellschaft, die nirgends existierte als in den Werken der humanistischen Literatur. Er wurde dadurch zu einem „Konservativen“ besonderen Schlags, der unter den besonderen österreichischen Bedingungen auf einmal in der Front der Reaktion stand, die er in Wahrheit verabscheute. Auch ein anderer verspäteter Repräsentant des deutschen Humanismus ist, eben weil er ein großer Humanist war, zum „Sonderling“ geworden: aber dieser andere einsame Hüter des Goetheschen Vermächtnisses, Gottfried Keller, hatte das Glück, nicht in dem absolutistischen Österreich, sondern in der urwüchsigen Schweizer Demokratie verwurzelt zu sein. Sein Schweizer Patriotismus stand auf einem gesünderen Boden als der Patriotismus Grillparzers, sein Humanismus war durch und durch demokratisch, der Humanismus Grillparzers aber, der nur „zwei Fremden und keine Heimat“ hatte, mündete in politische Hoffnungslosigkeit.

Jenes Österreich, daß Grillparzer „bis zum Kindischen“ liebte, war mehr Wunschtraum als Wirklichkeit - im Gegensatz zu der Schweiz Gottfried Kellers, deren gesellschaftliche Wirklichkeit zwar an dessen Dichtung nicht annähernd heranreichte, aber doch ihr solides Fundament bildete.

Wien

Trotzdem schöpfte auch Grillparzer seine Dichtung aus einer Wirklichkeit - und diese Wirklichkeit war Wien. Von Grillparzer sprechen, heißt von Wien sprechen, von dieser eigenartigen und eigenwilligen Stadt, in der sich die Geschichte des österreichischen Volkes, sein Wesen, seine Kultur zu einem festen und dauerhaften Kern verdichtete.

Wien, an einer uralten Völkerstraße gelegen, angelehnt an das Alpenvorland und weit geöffnet gegen den Orient, war schon im Mittelalter ein großer Schmelztiegel vieler Völker und Kulturen. Im Zeitalter der Kreuzzüge wurde Wien zu einem wichtigen Handelsknotenpunkt, zu einem gewaltigen Sammelplatz fremder Waren und fremder Kaufleute. Die Gemeindeordnung von 1221 zählt unter anderen Waren auf: Hopfen und Bier aus Böhmen, Honig und Honigwasser aus Polen, Häute und Pelzwerk aus Rußland, Heringe aus Bremen, Tuch aus Gent, Ypern und Arras, Glaswaren aus Venedig, kostbare Gewebe aus Byzanz, Gewürze aus dem Morgenland.. Dazu kommen die österreichischen Produkte: Eier, Schafe, Ziegen, Käse, Früchte, Holz, Getreide und vor allem der Wein, aus dem der Wohlstand Wiens emporsteigt. Das deutschsprachige Bürgertum dieser reichen Handelsstadt vermischte sich von Anfang an mit den ausländischen Kaufleuten, verschwägerte sich mit Italienern, Ungarn, Tschechen, Byzantinern usw. Die Massen des Volkes waren noch im 14. Jahrhundert slowenisch; die Messe wurde zu Wien auch in slowenischer Sprach gelesen, weil, wie wir aus Durandis „Rationale divinorum officiorum“ erfahren, „keine andere Sprache so weit verbreitet ist als diese, so man die windische nennt“. Antonio Bonfini, der Geschichtsschreiber des Matthias Corvinus, berichtet von den vielen italienischen Bürgerfamilien in Wien, den Skaligers, Carraras usw. Nach dem Tod des Kaisers Maximilian I. bestehn Adel und Kaufmannschaft von Wien zu großen Teil aus Spaniern und Italienern. Spanische und italienisch Worte dringen in die Volkssprache, spanische Etikette und Mode, italienische Kostüme, Sitten und Vergnügungen nehmen in Wien überhand. Wolfgang Lazius, der Arzt und Geschichtsschreiber Ferdinands I., schildert das Wien des 16. Jahrhunderts als eine ganz und gar internationale Stadt; man höre hier in gleicher Weise Deutsch, Italienisch, Lateinisch (die Sprach des ungarischen Adels), Böhmisch, Polnisch und Slowenisch. Wolfgang Schmelzl, von 1540 bis 1551 in Wien, schreibt einen „Lobspruch“ an die Donaustadt, auf das gute und reiche Essen, auf den Wein vom Kahlenberg, auf die Musiker, die Wien ein besonderes Gepräge verleihn. Auch er berichtet von dem Völker- und Sprachengemisch; man höre in den Straßen von Wien Deutsch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Türkisch, Tschechisch, Ungarisch, Holländisch, Syrisch, Polnisch. Zur Hauptstadt eines Weltreiches heranwachsend, hat Wien deutsche, italienische, spanische, slawische und manche anderen Elemente in sich aufgenommen und verarbeitet, ist es im vollen Sinn des Wortes zu einer Weltstadt geworden.

Diese Buntheit, dieses Überquellen von Farbe und Musik hatte jedoch etwas Parasitäres an sich und konnte über den Mangel an Konsistenz nicht hinwegtäuschen. Jede mittelalterliche Stadt war in mancher Hinsicht parasitär, Wien aber war es in ungewöhnlichem Ausmaß. Es lebte von seiner lage an der Donau, als Umschlagplatz zwischen West und Ost. die landesherrlichen Privilegien des Stapelrechts und Straßenzwangs, also Privilegien eines schmarotzerischen Zwischenhandels, waren für den Wohlstand der Stadt ausschlaggebend. In vielen mittelalterlichen Städten hat sich schon früh nicht nur zünftlerisches Handwerk, sondern auch Fabrikation größeren Stils herausgebildet, nicht so in Wien, das jahrhundertelang nur Wein exportierte, dessen Patrizier ihre Weingärten besaßen und ihren Gewinn vor allem dem Zwischenhandel verdankten. In Städten, die für einen größeren Markt produzierten, waren nicht nur Tuch, Leinen und andere Gebrauchsgüter, sondern auch neue gesellschaftliche Ideen das Ergebnis. Die norditalienischen, provençalischen, flandrischen, rheinischen, englischen Städte wurden zu Zentren der Opposition gegen die Feudalordnung, zu Zentren des Ketzertums und einer progressiven Philosophie. Eine Schicht verwegener und weitblickender Handelsherren bildete sich heraus, über Althergebrachtes hinausgreifend und freierm Denken Vorschub leistend. Aus den jonischen Handelsstädten war einst die europäische Philosophie hervorgegangen, in den Handelsstädten des Mittelalters wurde sie wiedergeboren. Wien hat an dieser Entwicklung nicht teilgenommen, keine produktive Ökonomie, keine kühnen Handelsherren, Fabrikanten, Ketzer, Philosophen hervorgebracht, sondern nur einen wohltemperierten Praktizismus. Daraus ergab sich die Verspätung, mit der alles Neue nach Österreich kam, daraus die geistige Passivität, das Sichheraushalten aus dem Streit der Ideen, aus Ketzerbewegung und philosophischer Formulierung gesellschaftlicher Gegensätze. Die Früchte reiften nicht in Österreich, sie wurden reif und spät aus andren Ländern gebracht, und daher war von der Gotik an jeder neue Stil gemäßigt, gemildert, nicht aggressiv, sondern liebenswürdig.

Das von altersher den Charakter Wiens Bestimmende wurde durch den Sieg der Gegenreformation bekräftigt und auf lange Sicht konserviert. Sowohl Bauernkrieg wie Reformation hatten in Österreich größte Ausmaße angenommen. Im Bündnis mit der katholischen Kirche gelang es den Habsburgern, diese gesellschaftlichen Bewegungen niederzuwerfen. Den Wienern vor allem wurde das Rückgrat gebrochen, doch gab es zweierlei Entschädigung: daß im Prozeß der Gegenreformation und im Ergebnis des Dreißigjährigen Krieges Österreich zur Großmacht wurde, herausgesprengt aus der deutschen Zersplitterung, und daß die Jesuiten mit behutsamer Hand und unbestreitbarer Meisterschaft die Erziehung des Adels und der Bürger übernahmen, die Erziehung zu absolutem Gehorsam, doch lässiger Moral, zu gesellschaftlicher Resignation, verklärt von Theater, Musik und Kunst.

Die Jesuiten waren vom Bewußtsein menschlicher Unzulänglichkeit durchdrungen. Sie stellten keine hochgespannten sittlichen Anforderungen. Sie eiferten nicht gegen Lebensfreude und irdisches Genießertum. Sie traten ihren Zöglingen als kluge Skeptiker und nicht als starre Sittenrichter gegenüber. Sie huldigten in der Sphäre des Privaten dem Grundsatz „Leben und leben lassen!“, um dadurch um so sicherer Einfluß auf die Menschen zu gewinnen. Von dieser Lebensauffassung ist manches in das Wesen Wiens übergegangen. Auf der einen Seite die Tendenz zu einem gewissen Fatalismus, eine gewisse Entschlußlosigkeit, Ausweichen vor Entscheidungen, achselzuckender Ironie, auf der anderen Verständnis für den Mitmenschen, Toleranz, Liebenswürdigkeit und zäher Widerstand gegen die Vergewaltigung des Privatlebens durch anmaßende Obrigkeiten. „Vita somnium breve “ -„das Leben ist ein kurzer Traum!“ - lehrten die Jesuiten. „Das Leben ein Traum!“, heitere Gelassenheit, weil hinter allem ja doch der Tod emporsteigt. Musik und Licht am Rande einer großen schwarzen Nacht.

Der Untertan des Habsburgerreiches sah über sich einen pompösen Machtapparat, der ihn dirigierte, häufig mit Elend und manchmal mit Gnaden bedachte, den Machtapparat eines weiträumigen und unübersichtlichen Riesenreiches, das nur locker zusammenhielt. Seit der Niederwerfung der letzten großen Volksaufstände, die in Österreich ebenso ungestüm wie hartnäckig waren, traten die Volksmassen ins sehr merkwürdige Beziehungen zu dem siegreichen Machtapparat. Sie nahmen ihn mit spöttischem Fatalismus hin, betrachteten ihn als etwas Willkürliches und Zufälliges; es war am besten, sich seinen Ansprüchen irgendwie zu entziehn, den Herrschaften ein undurchdringliches Gesicht und manchmal den Hintern zu zeigen. Das ungemein lose Verhältnis des Volkes zu den Machthabern beruhte vor allem darauf, daß das Habsburgerreich eine europäische Weltmacht und nicht ein deutscher Kleinstaat war, in dem die „Obrigkeit“ sich in alles und jedes einmengte, in dem der „Landesvater“ jedem Untertan in die Schüssel guckte und spuckte – und daß diese Weltmacht unvergleichlich weniger zentralisiert war als zum Beispiel Frankreich; daß die Verwaltung weitmaschiger und durchlässiger den Volkskörper umgab als etwa die Verwaltung des französischen Königtums. Aus diesem losen Verhältnis zwischen der Regierung und den Regierten erklärt sich auch die auf den ersten Blick erstaunliche Tatsache, daß sich trotz dem drückenden Absolutismus in der Barockzeit auch die österreichische Volkskultur entwickelte, daß aus der Barockzeit nicht nur Kirchen und Schlösser, sondern auch Bauerntruhen und dörfliche Schnitzereien, nicht nur feierliche Jesuitendramen und prachtstrotzende Opern, sondern auch saftige Volksstücke hervorgingen.

Die lange fortwirkende Theaterleidenschaft des Wieners hängt ebenfalls mit den eigentümlichen Verhältnissen der Habsburgermonarchie zusammen. Stets von großer Politik überschattet, ohne aktiv an ihr Anteil zu nehmen oder sie völlig zu durchschauen, haben die Wiener ihre dramatischen Reflexe, ihre erregenden Äußerlichen, die Siegesfeiern, Paraden und repräsentativen Veranstaltungen wahrgenommen., Sie waren Publikum des großen Welttheaters, das sich in Wien vor ihnen auftat, ein lebhaftes, neugieriges und spöttisches Publikum. Das große Welttheater wirkte auf ihre Phantasie, aber es blendete nicht ihren Blick für die Hohlheit der meisten „Helden“. Die Wiener hatten ein feines Ohr für das Falsche, Unechte, Aufgedonnerte. Sie rächten sich an dem spanischen Hofzeremoniell, an den pompösen Übertreibungen und majestätischen Haupt- und Staatsaktionen durch ein schallendes, unehrerbietiges Gelächter. So ließ der Absolutismus, „gemildert durch Schlamperei“, den Fatalismus, die Lässigkeit, die ironische Resignation, aber auch den Humor, die Toleranz, die passive Energie des Wieners heranreifen.

In dieser Stadt wurzelte Grillparzer, sie war seine Kraft und seine Schwäche zugleich. In seinem „Abschied von Wien“ hat er die Worte geprägt:

Schön bist du, doch gefährlich auch,
Dem Schüler wie dem Meister,
Entnervend weht dein Sommerhauch,
Du Capua der Geister

Weithin Musik, wie wenn im Baum
Der Vögel Chor erwachte,
Man spricht nicht, denkt wohl etwa kaum
Und fühlt das Halbgedachte.

Dazu dein Volk, ein wackres Herz,
Verstand, und vom gesunden,
Das sich mit Märchen und mit Scherz
Der Wahrheit Bild umwunden

Doch weil, von soviel Schönheit voll,
Wir nur zu atmen brauchen,
Vergißt man, was zum Herzen quoll,
Auch wieder auszuhauchen

Grillparzer hat mitunter versucht, sich von der geliebten Stadt loszureißen, doch immer wieder hat sie ihn festgehalten. Undenkbar ist seine Dichtung ohne den Saft und den Duft Wiens; aus dem Wiener Vorstadttheater erhebt sie sich in das hohe Licht eines Humanismus, der herbstlich zur Neige geht, während ringsum schon die Schatten des Verfalls, der Auflösung des österreichischen Völkerstaates das Land verdunkeln. Aus der Mitte des Volkes von Wien, aus dem Helldunkel der Wiener Gassen und Gäßchen, Vorstädte und Hinterhöfe, Paläste und Volkscafés treten seine Gestalten in das Rampenlicht, verkleidet in antike oder mittelalterliche Kostüme. Die Griechinnen Sappho und Melitta, Kreusa und Hero sind Wiener Frauen und Mädchen; und aus den Tiefen der allumfassenden Völkerstadt steigen auch die Medea und die Jüdin von Toledo hervor. In seiner wehmütig schönen Erzählung „Der arme Spielmann“ hat Grillparzer selbst darauf hingewiesen:

„Von dem Wortwechsel weinerhitzter Karrenschieber spinnt sich ein unsichtbarer, aber ununterbrochener Faden bis zum Zwist der Göttersöhne, und in der jungen Jagd, die, halb wieder Willen, dem drängenden Liebhaber seitab vom Gewühl der Tanzend folgt, liegen als Embryo die Julien, die Didos und die Medeen.“

Es ist mehr als ein Zufall, daß Grillparzer, als er die „Argonauten“ schrieb, die „turmartige Wendeltreppe in den Hofe eines uralten Nachbarhauses“ als „willkommenen Stützpunkt“ seiner Phantasie vor Augen hatte, so wie es kein Zufall ist, daß die unsterbliche österreichische Musik häufig die Geburtshelferin seiner Dichtung war:

„Bei all diesen Symphonien Haydns, Mozarts, Beethovens dachte ich fortwährend an mein Goldenes Vlies, und die Gedankenembryonen verschwammen mit den Tönen in ein ununterscheidbares Ganzes.“

Aus ursprünglichen Eindrücken und Erlebnissen, aus der verdämmernden Hintergründigkeit von Wien sind die Dichtungen Grillparzers hervorgegangen, als seine sie gleichsam Träume dieser Stadt.

(Aus: Ernst Fischer, Von Grillparzer zu Kafka. Sechs Essays. Wien: Globus 1962)